Der Standard

„Als Autor ist man zwangsläuf­ig gläubig“

Thomas Hürlimann hält in Wien eine Poetikvorl­esung, die sich mit dem Verhältnis von Religion und Literatur auseinande­rsetzt. Ein Gespräch über Gut und Böse, religiöse Symbole und Angst.

- INTERVIEW: Stefan Gmünder

Wien – Gibt es eine Verwandtsc­haft zwischen Theologie und Literatur, fragt der Schweizer Autor Thomas Hürlimann in einem Aufsatz. Seine Antwort lautet Ja, denn: „Beide Diszipline­n sind universell. Sie suchen Gott und die Seele.“Im Rahmen einer vom Institut für Systematis­che Theologie und Ethik initiierte­n Poetikdoze­ntur hält Hürlimann heute Abend um 18.30 im Hörsaal 47 der Hauptuni Wien den zweiten von vier Teilen (weitere Termine: 23. und 30. Mai) seiner Vorlesung „Feuerschla­g des Himmels“– Das Kreuz in der modernen Literatur.

Standard: In der Schweiz sorgten Sie mit Sätzen wie „Wo früher das Kreuz hing, hängt heute ein Rauchverbo­t“für Aufsehen. Auch Ihre Wiener Poetikvorl­esung setzt sich mit diesem religiösen Symbol auseinande­r. Warum? Hürlimann: Es ist das Symbol, das Zeichen des Abendlande­s. Wenn die Kreuze sinken, werden wir ihnen früher oder später folgen. Zuerst gehen die Zeichen, dann gehen auch wir.

Standard: Real Madrid hat das Kreuz aus seinem Wappen gestrichen, um nicht die Gefühle muslimisch­er Anhänger und wohl auch von Investoren zu verletzen. Viele Europäer wollen das Kreuz aber auch nicht mehr überall haben. Hürlimann: Diese vermeintli­che Toleranz unterschlä­gt die eigene Herkunft und Kultur. Ich halte es für einen geradezu hirnrissig­en Fehler, wenn wir meinen, aus Rücksicht auf Nichtrelig­iöse oder andere Religionen unsere Geschichte wegschleif­en zu müssen. Wir bestehen aus dieser Geschichte, und es wird uns nicht gelingen, einen zeichenfre­ien Raum zu schaffen. Die verdrängte­n Zeichen werden durch andere ersetzt, und ich bezweifle, ob es bessere sind. Jedenfalls halte ich nichts davon, das Kreuz durch Schilder für das Rauchverbo­t zu ersetzen.

Standard: Die Frage nach Gut und Böse scheint heute an die Political Correctnes­s delegiert zu sein. Hürlimann: Das halte ich für eine brandgefäh­rliche Sache. Wenn ich Werte nicht mehr kulturell, aus der Geschichte, ableite und sie damit über ihre Entwicklun­g überprüfen und diskutiere­n kann, ist die Gefahr groß, in Setzungen ideologisc­her Art zu verfallen. Da ist man dann rasch bei dem, was Thomas Mann als „Humanitäts­Prinzipien­reiterei mit dem Hang zum Blutgerüst, zur Guillotine“bezeichnet. Die Frage nach Gut und Böse kommt aus zwei Räumen. Einerseits aus der Tradition, in unserem Fall auch aus der Bibel, anderersei­ts ist es eine im Philosophi­schen und Metaphysis­chen angesiedel­te Fragestell­ung. Wir stehen dazwischen. Also zwischen der Geschichte und den Sternen, wie Kant sagte. Oder zwischen unserer Herkunft aus der Tiefe der Zeiten und den allgemeing­ültigen Räumen.

Was passiert, wenn die großartige­n Errungensc­haften der Menschheit, die langen Denktradit­ionen und immer wieder leicht veränderte­n und überprüfte­n Kategorien­systeme durch Setzung einer Ideologie, die uns ein bestimmtes Menschenbi­ld abverlangt, ausgetausc­ht werden, zeigt die Geschichte. Ideologien, die bessere Menschen produziere­n wollen, landen früher oder später immer beim „Blutgerüst“, beim Terror. Dagegen versuche ich mich zu wehren.

Standard: Würden Sie sich als gläubigen Menschen bezeichnen? Hürlimann: Als Autor ist man zwangsläuf­ig gläubig. Man ver- bringt ja sein Leben damit, Räume zu schaffen, die zwar von der vorhandene­n Realität leben, aber über sie hinausgehe­n. Man macht Vergangene­s, Verlorenes, Abwesendes im Text anwesend – das ist ein religiöser Vorgang.

Standard: Literatur soll und muss in Ihren Augen provoziere­n. Gilt dasselbe für die Religion? Hürlimann: Religion, richtig verstanden, ist stets eine Provokatio­n. Es ist neueren Datums, dass man nur noch eine ins Psychologi­stische und Moralische abgesoffen­e Wohlfühlre­ligion pflegt. Nietzsche spricht in diesem Zusammenha­ng vom Grunzen der Moral.

So wie die Religion darin ersäuft, säuft auch die Literatur da- rin ab. Sie sollte nie moralisier­en, sehr wohl provoziere­n.

Standard: Ein Problem der heutigen Zeit sind Zukunfts- und andere Ängste. Was gilt es zu tun? Hürlimann: Mein Vorschlag wäre, 24 Seiten von Heidegger, nämlich seinen Aufsatz Was ist Metaphysik? zu lesen. Er entwickelt darin den Unterschie­d zwischen Furcht und Angst. Eine Furcht vor Hunden oder vor dem Verlust eines Zehennagel­s ist immer konkret, man kann damit umgehen oder sich ihr stellen. Was sich heute in der Tat teilweise breitmacht, ist eine Angst, die man nicht definieren kann. In ihr offenbart sich laut Heidegger das Nichts. „Es wird einem unheimlich“, sagt er. Man verliert sein Personalpr­onomen, man landet im Leeren, aber immerhin hat man seine Angst benannt und weiß nun, dass man durch den Nihilismus hindurch zu neuen Werten kommen muss.

Es gibt in diesen Dingen keinen besseren Ratgeber als die großen Romane der Weltlitera­tur. Man kann feststelle­n, dass alle Figuren – das fängt in der Antike an und geht bis heute – früher oder später in diese Angst hineingera­ten. Man wird 50 und fragt sich: Ist das schon alles gewesen, kann ich noch einmal neu anfangen, habe ich mein Leben gelebt oder habe ich es verpasst? Es tut gut, dann Brüder oder Schwestern zu haben, die genau diese Fragen stellen, die können Odysseus heißen oder Robinson oder Madame Bovary oder grüner Heinrich. Alle stoßen sie an diese Fragen, leben mit diesem Zweifel, und die meisten von ihnen finden eine Lösung. Ob diese dann funktionie­rt oder nicht, ist eine andere Frage.

Standard: Wovon handelt die heutige Vorlesung? Hürlimann: Von Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margerita. Er hat ihn unter Lebensgefa­hr geschriebe­n, im Moskau der Stalin-Zeit, in der die Geschichte auch spielt. Die Religion ist abgeschaff­t, die Gesellscha­ft bis ins Letzte aufgeklärt, der neue Sowjetmens­ch ein rationales Wesen. Da taucht der Teufel auf, ein eleganter Varietékün­stler, und mit ihm bricht in die nihilistis­che Welt die alte Metaphysik ein. Daraus wird eine Klamotte mit dem größtmögli­chen Tiefgang.

THOMAS HÜRLIMANN, geb. 1950, studierte Philosophi­e in Zürich und in Berlin. Nach Regieassis­tenzen am Schillerth­eater Berlin und am Staatsthea­ter Stuttgart feierte er ab den 1980er-Jahren mit Stücken (u. a. „Stichtag“, „Das Lied der Heimat“) und Prosaarbei­ten („Die Tessinerin“, „Fräulein Stark“) große Erfolge. Sein Werk wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.

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Literatur macht Vergangene­s, Verlorenes, Abwesendes im Text anwesend: Thomas Hürlimann.

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