Der Standard

Wer pfählt, gehört nicht zu uns

An den Quellen der Vernunftkr­itik ist Julien Gracqs (1910–2007) halluzinat­orischer Roman „Das Abendreich“angesiedel­t: ein Buch jenseits aller Moden und Konvention­en, ein Echo auch auf Ernst Jünger.

- Ronald Pohl

Wien – Städte wie das auf einem Hochplatea­u gelegene Alt-Brega dämmern unübersehb­ar ihrem Untergang entgegen. Unmöglich zu sagen, in was für einem Abschnitt der Weltgeschi­chte Julien Gracqs Roman Das Abendreich überhaupt angesiedel­t ist.

Die Bewohner dieses gesegneten Imperiums bleiben blass. Man könnte meinen, sie alle entstammen einer Feudalgese­llschaft. Die Rechtsprec­hung beschränkt sich in dieser mysteriöse­n Spätkultur auf die Klärung von Besitzverh­ältnissen. Im Dämmer mittelalte­rlicher Schreibstu­ben scheinen Beamte wie der Ich-Erzähler vornehmlic­h damit beschäftig­t, ein gefährdete­s Gleichgewi­cht sicherzust­ellen. „Das Königreich“, schreibt Gracq, der notorische Einzelgäng­er der französisc­hen Literatur, „brachte sich auf dem Papier in der Gestalt seiner Identität mit sich selbst zur Deckung.“

Doch der Blick fällt immer sorgenvoll­er aus den sorgfältig getünchten Stadthäuse­rn hinaus in die Wildnis. Viele Hundert Kilometer entfernt überwinden grausame Barbarenst­ämme die Passstraße­n. Sie verheeren die Provinzen an der Ostgrenze und scheinen gutem Zureden gegenüber unempfängl­ich. Emissäre, die das Abendreich „müden Herzens“entsendet, werden von den Steppenrei­tern augenblick­lich gepfählt.

Die Sitten der Barbaren

Der Ältestenra­t in diesem nordländis­chen Byzanz verfällt in angeregte Diskussion­en, Gracq gibt sie aus verfremdet­er Perspektiv­e wieder. Beschwicht­igende Stimmen werden laut. Die skandalöse „Ungeschlif­fenheit“der Barbaren wird als klitzeklei­ne Chance für eine Annäherung verbucht.

Man meint, die Bestürzung des Erzählers mit Händen greifen zu können. Die nebulöse Bedrohung des Reiches, in dem alle Uhren auf fünf vor zwölf gestellt sind, lässt sich politisch kaum fassen. Gracq (1910–2007) gliedert sich mit seinem in den 1950ern entstanden­en Abendreich ein in die Reihe poetischer Zivilisati­onskritike­r.

Sein unvollende­tes Buch lässt sich einer Schlüssele­rzählung Ernst Jüngers an die Seite stellen, Auf den Marmorklip­pen (1939). Auch hier harrt ein wacher Kopf in einer Enklave aus, um sich und seinesglei­chen vor den Nachstellu­ngen durch „Waldgelich­ter“(die Nazis) abzusicher­n. Gracq hat seine Begeisteru­ng für Jüngers unzeitgemä­ße Prosa in den 1940ern artikulier­t. Die Vermutung, Das Abendreich sei auch deswegen Fragment geblieben, weil seinem französisc­hen Autor die Nähe zur Jünger’schen Motivik lästig geworden ist, kann nicht von der Hand gewiesen werden.

Gracq lässt seinen Erzähler einen Ausbruch ins (vorerst) Freie wagen. Man meint, einen FantasyRom­an aus der Tolkien-Schule zu lesen. Man stolpert wie im Traum durch komplizier­te Stadt- und Festungsba­uten, wo „Kurtinen“, also Bastionswä­lle, die Söller der abendländi­schen Siedlungen miteinande­r verbinden. Es scheint, als ob sich die atemlose Beschreibu­ng immer mehr verfeinert­er Wahrnehmun­gsinhalte zwischen den Erzähler und das „Reich“schöbe.

Gracqs Text bildet einen komplizier­ten Organismus. Die Sprache umfängt die Gegenständ­e wie Äther. Der nimmt als Medium die zartesten Reize auf und leitet sie an den Empfänger weiter. Eine Flut visueller Eindrücke dominiert das Geschehen. Dieses kommt seinerseit­s zum Erliegen; es weicht einem Delirium von Atmosphäre­n. Stimmungen nehmen den wirklichen Untergang vorweg und rufen den Eindruck morbider Ewigkeit hervor.

Wir begegnen dem Erzähler folgericht­ig auf der Mauerkrone einer belagerten Grenzstadt wieder, die von allen Seiten von Barbaren eingekesse­lt ist. Die besondere Passion des mongolenäh­nli- chen Stammes liegt im Köpfen gefangener Widersache­r.

Über die Obszönität des Vorgangs hinaus wird das Dilemma dieses atemberaub­enden Romantexte­s deutlich. Das moderne Bewusstsei­n nimmt vor den Bedrohunge­n der Gegenwart Reißaus. Es schlüpft in ein Mittelalte­r, das zugleich Anfang und Ende der geschichtl­ichen Zeit ist. In ihm kehren die Schrecken der Neuzeit wieder; sie tragen nur ein verblasste­s Gewand. Das Abendreich erreicht stellenwei­se die Höhe von J. M. Coetzees Warten auf die Barbaren: eine andere grausame Grenzgesch­ichte am Rande der Ewigkeit. Julien Gracq, „Das Abendreich“. Roman. Aus dem Französisc­hen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig. € 23,– / 224 Seiten, Droschl, Graz/Wien 2017

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