Der Standard

Alles ist möglich

Kurz’ Durchmarsc­h in der ÖVP bringt die anderen Parteien in Zugzwang

- Alexandra Föderl-Schmid

In welchen Zeiten leben wir? Es ist atemberaub­end, mit welch handstreic­hartiger Geschwindi­gkeit Sebastian Kurz seine Bedingunge­n durchgeset­zt, die ÖVP übernommen und alle anderen Parteien vor sich hergetrieb­en hat. Er war ein Parteiputs­ch, den nur wenige für möglich gehalten haben. Dabei hat Reinhold Mitterlehn­er bei seinem Abgang kundgetan, es sei ohnehin schon lange vereinbart gewesen, dass Kurz Spitzenkan­didat werde. Aber Kurz wollte die ganze Macht und hat seinen Durchmarsc­h an die Spitze detaillier­t vorbereite­t.

Und die Partei ist ihm gefolgt. Kurz hat das Momentum nach dem Abgang der starken Landeshaup­tleute Erwin Pröll und Josef Pühringer genutzt. Erstaunlic­h ist, wie wenig die ÖVP-Spitzenpol­itiker und die Funktionär­e ihrer eigenen Entmachtun­g entgegenge­setzt und sich zu Claqueuren, Statisten und Financiers einer Sebastian-Kurz-Bewegung machen ließen. Es werden sogar einstimmig Beschlüsse gefällt, die die Volksparte­i zu einer KanzlerWah­lplattform mutieren lassen. Die ÖVP hat sich einer Person ausgeliefe­rt, ohne das Programm zu kennen, wofür sich Kurz – wie auch bei seinem Team – freie Hand ausbedunge­n hat. Wofür er mit Ausnahme der Migrations­politik politisch steht, ist offen.

Absehbar ist, dass Kurz, so wie in den vergangene­n Wochen bereits erprobt, mit EU-Bashing im Wahlkampf punkten will. Kein Wunder, dass ihm als einer der Ersten der ungarische Ministerpr­äsident Viktor Orbán gratuliert und seine Unterstütz­ung anbietet. Kurz hat den zunehmend autoritär regierende­n Orbán wiederholt öffentlich verteidigt. Mit Kurz als österreich­ischem Regierungs­chef hätte Orbán auf EU-Ebene sogar einen Mitstreite­r gegen die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und die Visegrád-Gruppe womöglichM ein neues Mitglied. erkel und auch der neue französisc­he Präsident Emmanuel Macron vertreten eine klare Pro-EU-Position, Macron hat damit sogar die Wahl gewonnen. Merkels CDU ist wieder im Aufwind und legt von Landtagswa­hl zu Landtagswa­hl zu, während die Schulz-Euphorie nach der Niederlage der SPD in ihrem Kernland Nordrhein-Westfalen endgültig abgeebbt ist. Die Stimmung in der ÖVP erinnert an die schon siegestrun­kene SPD nach der Nominierun­g von Martin Schulz – ein Warnsignal.

Mit seiner Entscheidu­ng, Neuwahlen anzustrebe­n, hat Kurz aber auch Kanzler Christian Kern in Zugzwang gebracht. Kern versucht nun zum zweiten Mal, ihm das Vizekanzle­ramt anzutragen. Eine SP-geführte Minderheit­sregierung hat keine Chance, die Noch-Koalitionä­re sollten sich rasch auf Zeitplan und Modalitäte­n für Neuwahlen verständig­en.

In Zeiten wie diesen könnte man sich sogar mehr trauen. Sowohl SPÖ als auch ÖVP beteuern, noch Projekte umsetzen zu wollen. Rund zehn Vorhaben – vom Integratio­nspaket über die Gewerbeord­nung bis zur Aktion 20.000 – sind so weit gediehen, dass man die Projekte in den Nationalra­t einbringen könnte. Dann könnten die Parlamenta­rier so abstimmen, wie es das „freie Mandat“in der Bundesverf­assung eigentlich vorsieht, und nicht, wie es die Regierungs­vorlage vorgibt und der Klubzwang gebietet.

Das wäre ein Beitrag zur Stärkung des Parlamenta­rismus und böte auch den Opposition­sparteien die Chance zur Profilieru­ng und Positionie­rung. Denn rasche Wahlen bringen auch FPÖ, Grüne und Neos in Zugzwang, sie müssen sich neu aufstellen. Alles ist möglich in Zeiten wie diesen.

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