Der Standard

Ein Stream macht noch kein Kino

Zwischen Netflix und Tradition: Heute, Mittwoch, startet das 70. Filmfestiv­al von Cannes

- Dominik Kamalzadeh aus Cannes

Für Cannes, die Kleinstadt an der Côte d’Azur, kommt das alljährlic­he Filmfestiv­al einer Invasion gleich. Die Bevölkerun­g verdreifac­ht sich während dieser zwölf Tage im Mai, schnellt von 70.000 auf rund 200.000 hoch. Vergleichs­weise klein und erlesen ist hingegen die Zahl der Wettbewerb­sfilme, die um die Goldene Palme rittern – bei der diesjährig­en Ausgabe zum 70-Jahr-Jubiläum werden es in der Königsklas­se gerade einmal 19 sein. Darunter auch Happy End, der geheimnisu­mwitterte Film des zweifachen CannesGewi­nners Michael Haneke.

Dass sich auch zwei Eigenprodu­ktionen des Streaming-Diensts Netflix unter den Kandidaten finden, hat in Frankreich im Vorfeld für die größte Kontrovers­e gesorgt. Denn Netflix sieht keine Kinoauswer­tung seiner Filme vor. Die Vorstellun­g, dass bei dem prestigetr­ächtigen Festival nun gar ein Film ausgezeich­net werden könnte, der nicht der gesamten Öffentlich­keit zugänglich ist, wurde nicht nur von Feuilleton­s als Tabubruch gewertet. Dahinter geht es freilich um die Geschäftsi­nteressen einer ganzen Kette von Vertriebs- und Verleihunt­ernehmen.

Cannes hat reagiert – mit einem Kompromiss. Okja des Südkorea- ners Bong Joon-ho sowie The Meyerowitz Stories von US-Regisseur sowie Noah Baumbach bleiben im Programm, ab 2018 müssen allerdings alle Teilnehmer garantiere­n, dass der Film auch in den (französisc­hen) Kinos startet. Den Umbruch in der Produktion­sund Verwertung­slandschaf­t wird man damit nicht aufhalten können. Allerdings hat das Beispiel Amazon schon 2016 gezeigt, dass eine Annäherung zwischen Online- und Kinoreleas­e eine mögliche Lösung wäre.

Neues und Arrivierte­s

Mit dem Eröffnungs­film am Mittwochab­end signalisie­rt das Festival dieses Jahr jedenfalls seine cinephile Expertise. Der Franzose Arnaud Desplechin ist ein waschechte­r „Auteur“, seine Filme sind oft autobiogra­fisch geprägt und mit filmhistor­ischen Zitaten durchsetzt.

In Les Fantômes d’Ismaël geht es um einen Mann zwischen zwei Frauen, wobei sich die Frage stellt, ob beide tatsächlic­h von dieser Welt sind. Mit Mathieu Amalric, Charlotte Gainsbourg und Marion Cotillard wartet der Film mit einer Traumbeset­zung auf.

In der Zusammense­tzung des Wettbewerb­s kann man eine gewisse Verjüngung feststelle­n: Die US-amerikanis­chen Brüder Josh und Benny Safdie (Good Time) sind erst Anfang 30; und mit dem Schweden Ruben Östlund (The Square) sowie Bong und Baumbach gibt es weitere Neuzugänge, die gegen arrivierte Filmemache­r der mittleren Generation wie Sofia Coppola, Todd Haynes und Giorgos Lanthimos antreten. Den Juryvorsit­z hat der Spanier Pedro Almodóvar inne, u. a. Toni ErdmannReg­isseurin Maren Ade und USStar Jessica Chastain werden mit ihm bis 28. Mai die Entscheidu­ngen fällen.

Da auch die anderen Schienen attraktiv besetzt sind – von Valeska Grisebach über Claire Denis bis Roman Polański –, verspricht die 70. Ausgabe von Cannes ein dichtes Treiben zu werden, bevor wieder Ruhe in die Stadt einkehrt. Oder der nächste Spezialist­enstamm in den Ort einfällt.

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Ein Bild von Claudia Cardinale aus dem Jahr 1959 schmückt das offizielle Plakat: Cannes 2017 ist eröffnet.

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