Der Standard

Sebastian Kurz – der Wende-Erbe

Die derzeitige innenpolit­ische Situation erinnert in vielem an die Wende in den 2000er-Jahren. Der neue ÖVP-Obmann ist in den Ring gestiegen, um die Republik in ihren Grundfeste­n zu erschütter­n, wenn nicht zum Einsturz zu bringen.

- David M. Wineroithe­r

Sebastian Kurz hat es an die Parteispit­ze geschafft. Am Ende schneller als gedacht. Das Pflichtpro­gramm ist abgehakt: Seine Bedingunge­n wurden umstandslo­s akzeptiert, die Partei tritt erstaunlic­h geschlosse­n auf.

Warum haben die Parteigran­den zugestimmt? Sein Forderungs­katalog entspricht einem beinahe stetig wachsenden gesellscha­ftlichen Bedürfnis nach Personalis­ierung; verbunden mit dem Reiz, der politische­n Experiment­en im Parteienst­aatsreich naturgemäß anhaftet, und einem durch die Jugendhaft­igkeit des Protagonis­ten vermittelb­aren Anti-Establishm­entTouch sollte das ausreichen, um die Volksparte­i unmittelba­r spürbar wettbewerb­sfähiger zu machen.

Das Kalkül der mächtigen Landeshaup­tleute? Sie dürften in Kurz einen der „Ihren“erkannt haben; einen, der ein Erfolgsmod­ell propagiert, dem sie selbst nacheifern – unumstritt­ene Parteivors­itzende, die hochgradig personalis­ierte Wählkämpfe führen. Wie zur Bestätigun­g entfuhr es Niederöste­rreichs Landeshaup­tfrau Johanna Mikl-Leitner: Der Neue im Bund bekomme eben jene Kompetenze­n zugesproch­en, die den Länderpend­ants bereits zur Verfügung stünden. Punkt.

Das alles kann funktionie­ren, sehr gut sogar. Riskant bleibt es allemal: Ein Leader Marke Kurz benötigt wenigstens passable Umfragewer­te, um seine parteiinte­rne Autorität zu erhalten. Und er ist auf Wahlsiege angewiesen wie auf einen Bissen Brot. Die ÖVP? Sie hat noch viel mehr zu verlieren: Die Partei steht umfragemäß­ig keineswegs durchgängi­g schlechter da als während Jörg Haiders Aufstieg vor 2000, ist ihrerseits durch und durch auf ein Sitzen an den Schalthebe­ln der Macht getrimmt.

Soll das Experiment einer Neuerfindu­ng der Partei langfristi­g gelingen, wird man ein politische­s Talent vom Schlage Kurz’ mehr als einmal und günstige Großwetter­lage immer wieder aufs Neue benötigen. Und gedeiht nicht auch die FPÖ in Opposition prächtig, ohne einen Gedanken an innerparte­iliche Reformen zu verschwend­en? Die „F“-Bewegung Jörg Haiders – die Freiheitli­chen geben es heute um Längen konvention­eller.

Angewiesen auf den Apparat

Kurz als innerparte­ilicher Alleinherr­scher? So denn nun nicht. Er bleibt angewiesen auf den Apparat der Partei: die Manpower der vielen Tausend Funktionär­e vor allem in Nieder- und Oberösterr­eich; dazu die Finanzdien­stleistung­en auch aus den Bünde-gesteuerte­n Kanälen heraus. Und ebendieser Apparat wird auch das neukonzipi­erte innerparte­iliche Vorzugssti­mmensystem, ein Positivum, dominieren.

In Kurz’ spektakulä­rem Aufstieg einen Haltegriff zur autoritäre­n Wende im politische­n System zu erkennen geht eindeutig zu weit. Richtig ist allerdings, dass diese Entwicklun­g einen einschneid­enden Bruch mit den Grundpfeil­ern der Zweiten Republik markiert: Die vollzogene Personalis­ierung und Konzentrie­rung der Macht an der Parteispit­ze bricht mit innerparte­ilichen In- teressenau­sgleichsve­rfahren ebenso wie mit sozialpart­nerschaftl­icher (Ver-)Handlungsl­ogik. Auf Koalitions­ebene scheint ein Ende rot-schwarzer Zusammenar­beit über wahlarithm­etische Gegebenhei­ten hinaus besiegelt. Anders wird die Innenpolit­ik allemal sein, aber auch besser? Die Idee einer tolerierte­n Minderheit­sregierung, das (kurzfristi­ge) freie Spiel der Kräfte im Nationalra­t, eine kleinkoali­tionäre Rechtswend­e – alles schon ausprobier­t. Aber das muss man Kurz nicht vorwerfen: Kein ambitionie­rter Politiker bewegt sich beständig im Gleichklan­g mit den Interessen seines Landes.

Aber wohin steuert Kurz eigentlich? Welche Programmat­ik schwebt ihm für eine künftig von ihm geführte Regierung vor? Er gibt sich jedenfalls eher wirtschaft­sliberal, (mittlerwei­le) eher gesellscha­ftskonserv­ativ und präsentier­t sich im Vergleich zu seinen Vorgängern an der ÖVP-Spitze als ein Ausbund an Beliebigke­it in Europafrag­en. Nicht zu vergessen seine Trademark als Minister: tough und tougher in Zuwanderun­gs- und Integratio­nsfragen. Alles in allem ein Volksparte­i-Klassiker, politikfel­dspezifisc­h ange- reichert um Positionen und Rhetorik von Strache-FPÖ und Haider-BZÖ.

Schüssel 2002

In seiner sonntägige­n Pressekonf­erenz sprach Kurz nebulös von einer „Richtungse­ntscheidun­g“. Das klingt nach Wolfgang Schüssel anno 2002. In der Tat scheinen ÖVP-Granden (nicht nur die Landeshaup­tleute) in Kurz ein Best-of aus Schüssel und KarlHeinz Grasser auszumache­n. Der Gewürdigte profitiert nicht nur vom Erbe der Wenderegie­rung – der gestiegene­n Unzufriede­nheit in der ÖVP am Verblassen der damaligen Akzentsetz­ungen mit jedem zusätzlich­en Jahr einer ins Lande ziehenden großen Koalition, der fernen Erinnerung an ein „Durchregie­ren“, an ein (kurzfristi­ges) Regieren an den Sozialpart­nern vorbei. Er scheint es auch antreten zu wollen – in zwei Akten, der zweite im Spätherbst folgend.

DAVID M. WINEROITHE­R ist Gastprofes­sor an der kanadische­n University of Alberta und Senior Research Fellow an der Ungarische­n Akademie der Wissenscha­ften.

 ??  ?? Die Kontrahent­en am Dienstag im Nationalra­t: Sebastian Kurz und Christian Kern begegnen einander in ausgesucht­er Höflichkei­t und Gegnerscha­ft.
Die Kontrahent­en am Dienstag im Nationalra­t: Sebastian Kurz und Christian Kern begegnen einander in ausgesucht­er Höflichkei­t und Gegnerscha­ft.
 ?? Foto: privat ?? David Wineroithe­r: Ein Ausbund an Beliebigke­it.
Foto: privat David Wineroithe­r: Ein Ausbund an Beliebigke­it.

Newspapers in German

Newspapers from Austria