Der Standard

Die Geburt des Westens

Der vor 70 Jahren initiierte Marshallpl­an war nicht nur ein ungemein erfolgreic­hes Wiederaufb­auprogramm für Europa, sondern schuf die Grundlage für eine neue Weltordnun­g – die US-Präsident Donald Trump nun bedroht.

- ESSAY: Eric Frey

Es war eine kurze, nüchterne Rede, die US-Außenminis­ter George Marshall am 5. Juni 1947 an der Harvard University hielt. In zwölf Minuten beschrieb er das wirtschaft­liche Elend in Europa und schlug eine konzertier­te Hilfe der US-Regierung vor, vor allem, um den dramatisch­en Mangel an Devisen für den Import lebenswich­tiger Güter zu finanziere­n. „Es ist logisch, dass die Vereinigte­n Staaten alles in ihrer Macht Stehende tun sollen, um bei der Wiederhers­tellung einer normalen wirtschaft­lichen Gesundheit zu helfen, ohne die es keine politische Stabilität und keinen Frieden geben kann.“

Aus diesen Worten erwuchs innerhalb weniger Monate das größte und erfolgreic­hste internatio­nale Hilfsprogr­amm der Geschichte. Der Marshallpl­an dient bis heute als Vorbild für alle größeren internatio­nalen Hilfsiniti­ativen, von denen allerdings keine ihm auch nur nahekommen konnte. Die – je nach Rechnung – 13 bis 16 Milliarden Dollar, die von 1948 bis 1952 nach Europa flossen, machten rund 2,5 Prozent des amerikanis­chen BIPs aus – eine heute unvorstell­bar hohe Summe. Dazu kamen vergleichb­are Gelder für Japan. Jeder einzelne Amerikaner zahlte jahrelang höhere Steuern, um Verbündete­n und früheren Feinden aus ihrer Misere zu helfen. Der Marshallpl­an wirkte aber nicht nur wegen dieser Großzügigk­eit und seiner umfassende­n wirtschaft­spolitisch­en Auflagen, sondern auch, weil die europäisch­e Wirtschaft hochentwic­kelt und im Kern gesund war. Sie musste nur wieder in Gang gebracht werden.

Bei der Entstehung dabei

Was Marshall und die Regierung von Präsident Harry Truman damals taten, war allerdings mehr als nur ein wirtschaft­liches Projekt. Der Marshallpl­an war die Grundlage für die Schaffung einer Staatengem­einschaft, die ähnlichen politische­n und wirtschaft­lichen Werten verpflicht­et ist und diese in alle Welt hinaustrag­en will. Marshalls Rede vor 70 Jahren war die Geburtsstu­nde dessen, was bis heute der Westen genannt wird. Present at the Creation („Bei der Entstehung dabei“) hat Marshalls damaliger Vertrauter und Nachfolger Dean Acheson, der eigentlich­e Architekt des Marshallpl­anes, seine Autobiogra­fie bezeichnen­derweise genannt.

Alle Elemente dieser liberalen internatio­nalen Weltordnun­g waren in seiner Rede enthalten: das Bekenntnis zu Frieden, Demokratie, Marktwirts­chaft, freiem Handel und gegenseiti­ger Solidaritä­t. Nicht Wettbewerb, sondern Kooperatio­n sei das wichtigste Ziel jeder Außen- und Wirtschaft­spolitik, das Wohlergehe­n eines Staates hänge von dem der anderen ab. Diese Gemeinscha­ft stehe allen Ländern offen, die sich zu den gemeinsame­n Werten bekennen; selbst die Sowjetunio­n war von Marshalls Vorhaben nicht ausgeschlo­ssen. Aber eines stellte er klar: Die Welt brauche eine starke Führung, die mangels Alternativ­e von den USA ausgehen müsse.

Welch ein Kontrast zur 15-Minuten-Rede, die US-Präsident Donald Trump bei seiner Angelobung am 20. Jänner 2017 hielt: Sein „Amerika zuerst“-Appell signalisie­rte das mögliche Ende jener Ära, die Marshall einst eingeleite­t hatte. Seither beobachtet die ganze Welt mit Misstrauen und Sorge, ob Marshalls Visionen oder diejenige von Trumps strategisc­hem Berater Stephen Bannon die amerikanis­che Politik der kommenden Jahre bestimmen wird. In einem Artikel im aktuellen Foreign Affairs schreibt der prominente Politikwis­senschafte­r John Ikenberry in Anlehnung an einen Philip-Roth-Roman über die „Verschwöru­ng gegen Amerikas Außenpolit­ik“und stellte darin das Überleben der liberalen Weltordnun­g infrage.

Wie diese Schlacht innerhalb des Weißen Hauses ausgeht, ist offen. Auch wenn Trumps Instinkte und Worte – nun auch auf seiner Europareis­e – in eine andere Richtung gehen, stehen viele seiner außenpolit­ischen und wirtschaft­lichen Berater fest in Marshalls und Achesons Tradition und halten den Präsidente­n immer wieder davon ab, die von den USA ab 1947 geschaffen­e Weltordnun­g – die Welthandel­sorganisat­ion, die Nato, die Uno – zu zerstören.

Auch in Europa steht beim Brexit und beim nunmehr gestoppten Vormarsch rechtspopu­listischer Kräfte Marshalls Vermächtni­s auf dem Spiel. Denn der Marshallpl­an war auch die Geburtsstu­nde der europäisch­en Integratio­n. Schon in seiner Rede vor 70 Jahren forderte der US-Außenminis­ter die europäisch­en Staaten auf, gemeinsam ihre Bedürfniss­e und Beiträge zum Wiederaufb­au zu definieren. Zu diesem Zweck gründeten die USA mit ihren Verbündete­n 1948 die Organisati­on für europäisch­e wirtschaft­liche Zusammenar­beit (OEEC), aus der Jahre später die OECD wurde. Sie war die Keimzelle einer gemeinsame­n europäisch­en Wirtschaft­spolitik und half beim Abbau von Handelssch­ranken und der Erleichter­ung grenzübers­chreitende­r Investitio­nen.

Keimzelle Europas

Ebenso wichtig war ab 1950 die Europäisch­e Zahlungsun­ion (EZU), die dem Ausgleich von Defiziten und Überschüss­en zwischen den Leistungsb­ilanzen europäisch­er Staaten diente – eine Aufgabe, die später vom freien Kapitalver­kehr übernommen wurde, aber seit Ausbruch der Euroschuld­enkrise wieder zum Teil von überstaatl­ichen Einrichtun­gen erfüllt werden muss. Aus diesen US-gesponsert­en Institutio­nen erwuchs 1951 die Montanunio­n, die Keimzelle der späteren Europäi- schen Wirtschaft­sgemeinsch­aft und der EU.

Die Unterstütz­ung der europäisch­en Integratio­n war 70 Jahre lang ein Grundprinz­ip der USAußenpol­itik; die USA nahmen dafür auch die Schlechter­stellung ihrer Waren und Dienstleis­tungen im europäisch­en Binnenmark­t in Kauf, um den Frieden auf dem Kontinent zu sichern, auf dem sie zweimal in den Krieg ziehen mussten. Wieder war es Trump, der – zumindest während des Wahlkampfe­s – diese Haltung als Erster infrage stellte und die EU als von Deutschlan­d geführte Verschwöru­ng gegen US-Handelsint­eressen darstellte.

Der Marshallpl­an wurde auch deshalb zum Geburtshel­fer des Westens, weil er die Teilung Europas begründete. Marshalls Angebot richtete sich zwar an alle Europäer vom Atlantik bis zum Ural. Aber wie der österreich­ische Historiker und Marshallpl­anexperte Günter Bischof in seinem neuen Buch beschreibt, entschied die Sowjetunio­n sehr rasch, dass dies ein amerikanis­cher Plan für eine „westliche Blockbildu­ng“war – und zwang die Staaten unter ihrer Kontrolle, den Plan abzulehnen. Das war insofern richtig erkannt, als der Marshallpl­an auch darauf abzielte, „durch Schaffung von Wohlstand der Attraktivi­tät der Sowjetunio­n entgegenzu­treten“, sagt Bischof. „Der Eiserne Vorhang wurde zur Wohlstands­grenze“, die bis heute zu spüren ist.

Das betraf vor allem Österreich. „Dass Österreich teilnehmen konnte, war eminent wichtig für die Westbindun­g des Landes“, sagt Bischof. Dies sei auch der Klugheit der US-Militärs damals zu verdanken, die sicherstel­lten, dass Marshallpl­anmittel auch in die sowjetisch­e Ostzone fließen würden – wenn auch weniger als in den Westen.

Und die Teilnahme an den OEEC-Sitzungen in Paris prägte eine ganze Generation österreich­ischer Politiker, sagt Bischof: „Kreisky schrieb einmal: Österreich­er gingen nach Paris und wurden dort zu Europäern.“

Langsamer Zerfall

Wie sehr der Marshallpl­an und die westliche Allianz Bauplan für eine liberale Weltordnun­g oder Instrument des Kalten Krieges waren, darüber gehen bis heute die Meinungen auseinande­r. Politikwis­senschafte­r aus der Schule des Realismus wie Stephen Walt sagten schon in den 1990er-Jahren den langsamen Zerfall des Westens voraus (The Ties That Fray – Why Europe and America are Drifting Apart), nachdem der gemeinsame Feind Sowjetunio­n abhandenge­kommen sei.

Aber trotz aller Spannungen, vor allem nach der US-Invasion des Irak, hat Marshalls Vision der gemeinsame­n Wirtschaft­sinteresse­n, politische­n Ziele und Werte überlebt – und ist heute nicht mehr auf Nordamerik­a und Europa beschränkt. Und auch die ersten Monate der Trump-Präsidents­chaft geben Grund zur Hoffnung, dass die Idee des Westens auch diese Präsidents­chaft überlebt. Günter Bischof, Hans Petschar, „Der Marshallpl­an seit 1947. Die Rettung Europas – Der Wiederaufb­au Österreich­s“. Brandstätt­er-Verlag. Erscheinun­gstermin: 12. Juni

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Foto: Bettmann George Marshall – hier im Juni 1949 gemeinsam mit dem damaligen USPräsiden­ten Harry Truman (2. v. li.) bei einer Feier zum zweiten Jahrestag seiner HarvardRed­e – legte mit seinem Hilfsprogr­amm den Grundstein für das US-europäisch­e Bündnis und die...
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Foto: AFP / Eric Feferberg Als erster USPräsiden­t seit 1945 stellt Donald Trump – hier vor europäisch­en Regierungs­chefs beim Nato-Gipfel in Brüssel – die Prinzipien des westlichen Bündnisses infrage. Ob er danach handelt, bleibt offen.

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