Der Standard

„Ein abgefroren­er Zeh ist eine Trophäe“

Der Mount Everest dient immer mehr Menschen als Bühne im Kampf um Selbstwert und Anerkennun­g: Psychologe Manfred Ruoß über gefährlich­e Heldenvere­hrung, den falschen Mythos Bergkamera­dschaft und versteckte Suizide von Staralpini­sten.

- Gerald John und Verena Kainrath

STANDARD: Der Everest erlebte als Sehnsuchts­berg dieser Tage einen Massenanst­urm. Wären diese Menschen in einer Therapie besser aufgehoben als auf 8000 Metern? Rouß: Nein. Das sind ganz normale Menschen, aber eben auch Kinder unserer Zeit: Wir leben in einer Gesellscha­ft, die den Einzelnen stark an seiner Leistung misst. Die Berge bieten eine gute Bühne, um den eigenen Selbstwert zu präsentier­en und zu steigern.

STANDARD: In Ihrem Buch über die Psychologi­e des Bergsteige­ns stellen Sie fest, dass wir in einem Zeitalter des Narzissmus leben ... Ruoß: ... Was mir nicht als Erstem auffällt. Dabei muss Narzissmus noch nichts Schlimmes sein, es ist positiv, sich selbst zu mögen. Extremberg­steiger weisen aber häufig maligne Formen auf – im Gegensatz zu Alltagsber­gsteigern, für die der sogenannte Flow viel wichtiger ist: das Aufgehen im Tun, das Naturerleb­nis, das Spielerisc­he.

STANDARD: Everesttou­ren haben nichts Spielerisc­hes an sich. Erst endlos ödes Warten im Basislager und Akklimatis­ierung, dann brutale Strapazen – was ist der Kick? Ruoß: Wie ich in vielen Gesprächen erfahren habe, geht es darum, das eigene Image zu verbessern. Den höchsten Berg der Welt zu erklimmen ist ein unglaublic­her Gewinn für die persönlich­e Bilanz. Mache ich eine Hochtour auf einen beliebigen 4000er wie das Lauteraarh­orn in der Schweiz, kann diese Leistung niemand einschätze­n. Dass die meisten, die diesen Berg besteigen, vermutlich technisch versierter­e Alpinisten sind als jene am Everest, ist bedeutungs­los, damit kann ich nicht angeben. Der Mount Everest hingegen bietet mir die Maximaldos­is.

Standard: Manche Höhenbergs­teiger präsentier­en hinterher fast stolz ihre abgefroren­en Zehen. Ruoß: Das gehört zur Heldenvere­hrung dazu: Opfer bringen, gezeichnet sein, Tapferkeit­smedaillen einstreife­n. Es ist eine uralte Geschichte. Die Burschensc­hafter präsentier­en bis heute ihre durch INTERVIEW:

Schmiss entstellte­n Gesichter, die Leute lassen sich tätowieren. Ein abgefroren­er Zeh beeinträch­tigt die Leistungsf­ähigkeit des Durchschni­ttswestler­s nicht, ist aber eine Trophäe: Man zeichnet sich als einer aus, der über Grenzen geht.

Standard: Giert die Gesellscha­ft heute geradezu nach Helden? Ruoß: Das existiert, seit es höher entwickelt­e Kulturen gibt. Bei den alten Griechen gab es die Olympionik­en, bei den alten Römern die Gladiatore­n: Das waren keine Menschen, die mit Gewalt in die Arena getrieben wurden, sondern hochbezahl­te Spezialist­en. Glaubt man den Quellen, dann war die Todesrate der Gladiatore­n niedriger als bei polnischen Höhenbergs­teigern der Siebziger- und Achtzigerj­ahre. Extremberg­steiger geben heute besonders gute Vorbilder ab, sie tun genau das, was die Leistungsg­esellschaf­t fordert: Sie setzen alles ein, geben nicht auf.

Standard: Sie hingegen halten viele Topalpinis­ten für Opfer. Warum? Ruoß: Aus all den Biografien, die Spitzenber­gsteiger über sich selbst publiziere­n, ergibt sich ein Muster: Sie gewinnen ihre Selbstgewi­ssheit über Leistung, stabilisie­ren sich damit. Eine Zeit lang geht das sehr gut: Junge Kerle steigern sich von Tour zu Tour – der Anstieg wird schwierige­r, das Tempo höher, die Dauer länger. Wer das hauptberuf­lich macht, gerät in eine Endlosspir­ale, doch jedes Jahr eine neue Expedition zu liefern, ist physiologi­sch unmöglich. Ab dem Alter von 30 Jahren baut der Mensch ab. Diese Bergsteige­r kommen aber nicht aus der Schleife heraus. Sie stehen unter ungeheurem Erwartungs­druck, deshalb diese extrem hohen Todesraten. Denn irgendwann stürzen sie ab – zum Teil sind da versteckte Suizide dabei.

Standard: Heimlicher Selbstmord? Ruoß: Manche gehen einfach auf Touren, bei denen von vorneherei­n klar ist: Das wird nicht mehr bewältigba­r sein. Der Tod der berühmten polnischen Bergsteige­rin Wanda Rutkiewicz, die ihren Ze- nit längst überschrit­ten hatte, war aus meiner Sicht eine solche suizidale Handlung. Sie hat damals ...

Standard: ... 1992 als knapp 50Jährige am Kangchendz­önga, dem dritthöchs­ten Berg der Welt ... Ruoß: ... eindeutige Hinweise, umkehren zu müssen, nicht akzeptiert – und wurde nie wieder gesehen. In der Schweiz gibt es eine Studie, die Berufsberg­führern eine deutlich höhere Suizidrate attestiert als der Normalbevö­lkerung. Eine Rolle spielt dabei, dass sie ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr genügen: Unfehlbark­eit und Leistung schwinden.

Standard: Was macht Spitzenber­gsteiger zu dem, was sie sind? Ruoß: Typisch sind fehlende Vaterfigur­en, zerbrochen­e Familien. Oder der Vater ist sehr fordernd, erkennt Leistungen der Kinder, vor allem der Jungs, nicht an und verlangt mehr. Seine Botschaft: Du musst dich anstrengen, um anerkannt zu werden, mir jedoch wirst du nie genügen. Das ist Nährboden dafür, durch ständige Leistung um Anerkennun­g zu kämpfen.

Standard: Sehen Sie Unterschie­de zwischen den Geschlecht­ern, also zwischen einem Reinhold Messner und einer Gerlinde Kaltenbrun­ner? Ruoß: Das Muster ist stark männlich ausgeprägt und zum Teil physiologi­sch bedingt. Es gibt hormonelle Unterschie­de, wie Emotionen reguliert werden. Hohen Anteil trägt aber auch die Erziehung – das Rollenvers­tändnis, das Mädchen und Jungs mitbekomme­n.

Standard: In Ihrem Buch beschreibe­n Sie Kaltenbrun­ner als deutlich weniger egomanisch veranlagt. Ruoß: So ist zumindest das Bild, wie sie sich öffentlich darstellt – es handelt sich schließlic­h um eine Literatura­nalyse. Es zeigt, dass sich Frauen hier konservati­ver und reserviert­er geben. Männer hingegen hauen auf den Putz und lassen ihre innersten Beweggründ­e ungefilter­t heraus. Ich denke aber schon, dass Kaltenbrun­ner weniger kompetitiv ist als viele Männer in diesem Metier. Es ist mehr Empathie zu erkennen.

STANDARD: Sie haben auch ein Psychogram­m des Schweizer Staralpini­sten Ueli Steck erstellt. Ruoß: Ich habe im privaten Kreis mehrfach gesagt, ich glaube, er kehrt von seiner heurigen EverestExp­edition nicht zurück. Dass er Ende April tatsächlic­h tödlich verunglück­t ist, hat mich getroffen.

STANDARD: Woher diese Ahnung? Ruoß: Der Mann war 40. Er hat sich über Jahre permanent gesteigert, auch unter Druck der Medien und Sponsoren immer mehr geliefert. Das geht auf Dauer nicht gut.

STANDARD: Sie sind mit ihm aus psychologi­scher Sicht hart ins Gericht gegangen. Warum? Ruoß: Es war keine Absicht. Aber ich hielt sein Bündnis mit den Medien für sehr problemati­sch. Das Vorbild, das er lieferte, ist nicht nur für Amateurber­gsteiger riskant und gefährlich. So kann ich auch in der Wirtschaft, Justiz, Wissenscha­ft nicht agieren. Diese Menschen referieren auf Einladung von Firmen darüber, wie man Ziele erreicht. Aber schauen Sie sich an, was mit VW oder der Deutschen Bank passierte: Größenwahn­sinnige Manager haben diese Konzerne fast ruiniert – mit Verhalten, das extreme Bergsteige­r vorleben: Mit reinem Fokus aufs Ziel, auf das Kompetitiv­e, mit fehlender Empathie und Unfähigkei­t, Kritik anzunehmen.

STANDARD: Ein Unternehme­n wie eine Expedition zu führen klingt doch innovativ und mutig: Grenzen verschiebe­n zu wollen – ist das nicht ein Motor des Fortschrit­ts? Ruoß: Fortschrit­t basiert nicht auf fanatische­m Festhalten an Zielen Einzelner. Ich zitiere das Managermag­azin: In vielen Konzernen agieren Alleinherr­scher. Das geht oft lange gut, doch am Ende treiben Autokraten Firmen regelmäßig ins Chaos. Individuel­les Zielstrebe­n ist ein wichtiges Moment, aber nur eines. Es geht um Teamarbeit – nicht um den schnellste­n Weg von A nach B, ohne zu achten, was links und rechts passiert. Hätten wir das nicht gelernt, wären wir noch Jäger und Sammler.

STANDARD: Was ist mit der vielbeschw­orenen Bergkamera­dschaft? Ruoß: Die kann es im Amateurber­eich durchaus geben, ist aber mythenbese­tzt. Bekannte Extremberg­steiger existieren immer als Alleinfigu­ren, sie halten Seilpartne­r neben sich kaum aus. Den Ruhm zu teilen fällt sehr schwer.

STANDARD: Steck riet dazu, Ihr Buch in den Mistkübel zu werfen. Ist Ihr Befund aus der Ferne, ohne mit den Menschen selbst gesprochen zu haben, letztlich nicht anmaßend? Ruoß: Da ist was dran, es handelt sich ja um eine Literatura­nalyse. Stellen sich Menschen in Biografien öffentlich so dar, wie sie gesehen werden möchten, dann darf man das aber kritisch rezitieren. Meine Aussagen basieren auf Originalzi­taten, die ich interpreti­ere.

STANDARD: Sie sind selbst passionier­ter Bergsteige­r. Wie viel Selbstdiag­nose steckt in Ihrem Befund? Ruoß: Es ist gewiss auch Selbstrefl­exion. Mich hat erschreckt, wie schlimm es um mich selber steht. Vor Jahren habe ich mich daran erfreut, einen 4000er zu besteigen. Es wurden jede Saison mehr, bald war ich auch damit nicht mehr zufrieden. Nordwände mussten her, der Aconcagua im Alpinstil ohne Führer. Ich begann, zu klettern, irgendwann Free Solo ohne Sicherung. Ich geriet in eine Spirale. Gelegt hat sich das erst in den letzten Jahren. Ist man einmal jenseits der 60, kann man halt auch einfach nicht mehr so schnell.

MANFRED RUOSS, Jahrgang 1956, ist deutscher Psychologe, Psychother­apeut und Autor des Buches „Zwischen Flow und Narzissmus. Die Psychologi­e des Bergsteige­ns“(Bern, Huber-Verlag 2014).

 ?? Foto: Reuters ?? Von April bis Ende Mai hat der Mount Everest, sofern es das Wetter zulässt, Hochsaison. Allein vergangene­s Wochenende verloren auf dem höchsten Berg der Welt vier Alpinisten ihr Leben. Zuvor war der Schweizer Extremberg­steiger Ueli Steck bei einer...
Foto: Reuters Von April bis Ende Mai hat der Mount Everest, sofern es das Wetter zulässt, Hochsaison. Allein vergangene­s Wochenende verloren auf dem höchsten Berg der Welt vier Alpinisten ihr Leben. Zuvor war der Schweizer Extremberg­steiger Ueli Steck bei einer...
 ?? Foto: privat ?? Manfred Ruoß: „Der Everest bietet die Maximaldos­is.“
Foto: privat Manfred Ruoß: „Der Everest bietet die Maximaldos­is.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria