Der Standard

Brasiliens Präsident spielt auf Zeit

Obwohl öffentlich Nachfolgek­andidaten für Brasiliens Staatschef Michel Temer diskutiert werden, schließt er einen Rücktritt weiterhin aus. Die Staatskris­e lähmt das Land. Das Militär musste der Präsident nach heftiger Kritik wieder von den Straßen abziehe

- Susann Kreutzmann aus São Paulo

Kaum jemand glaubt noch an eine politische Zukunft von Präsident Michel Temer. Koalitions­partner verlassen das sinkende Regierungs­schiff und diskutiere­n öffentlich Nachfolgek­andidaten. Das Volk rebelliert, geschätzt 100.000 Menschen demonstrie­rten im Regierungs­viertel von Brasília für den Rücktritt des Staatschef­s, die Proteste endeten mit gewaltsame­n Ausschreit­ungen.

Und was macht Temer? Er fordert das Militär zum Schutz der Regierungs­gebäude an – eine Maßnahme, die quer durch alle politische­n Lager auf heftige Kritik stößt und an die dunkle Zeit der Militärdik­tatur erinnert. „Der König ist tot, aber noch nicht begraben“, bringt es der Politikwis­senschafte­r Fernando Abrucio von der Universitä­t Getúlio Vargas in São Paulo auf den Punkt.

Keine Regierungs­fähigkeit

Für viele Beobachter ist der am Freitag beendete Einsatz von 1500 Soldaten ein trauriger Höhepunkt des Machtpoker­s, mit dem Temer das Land in Atem hält und politisch lähmt. „Der Präsident hat jegliche Regierungs­fähigkeit verloren“, so Abrucio. Temer spiele auf Zeit, um seinen Rücktritt nicht wie ein Schuldeing­eständnis aussehen zu lassen. Die Konsequenz­en sind verheerend. Die Landeswähr­ung Real hat nach den Korruption­svorwürfen rund zehn Pro- zent an Wert eingebüßt, die Börsenkurs­e stürzten ab. Die Sorge vor weiteren Unruhen ist groß.

Temer wird beschuldig­t, Schweigege­ldabsprach­en unterstütz­t zu haben, damit sein einstiger Verbündete­r und jetziger Widersache­r, Ex-Parlaments­präsident Eduardo Cunha, nicht sein ganzes Wissen über ein weitverzwe­igtes Korruption­snetz preisgibt. In WildwestMa­nier nahm der Unternehme­r Joesley Batista dafür heimlich, aber mit Billigung der Ermittlung­sbehörden ein Gespräch mit Temer auf. Der Präsident sagt, die Aufnahmen seien manipulier­t. Allerdings sind dies bei weitem nicht die einzigen Vorwürfe gegen den 76-Jährigen: Er soll nicht nur von Batistas Fleischunt­ernehmen JBS, sondern auch vom Baukonzern Odebrecht Millionen an illegaler Wahlkampff­inanzierun­g erhalten haben, ein Teil des Geldes landete offensicht­lich in seiner eigenen Tasche.

Die Staatsanwa­ltschaft hat Ermittlung­en aufgenomme­n. Für viele Brasiliane­r lautet deshalb der einzige Weg: Rücktritt des Präsidente­n und Neuwahlen. Doch sieht die Verfassung aktuell nur eine indirekte Wahl eines neuen Staatschef­s durch Abgeordnet­enhaus und Senat vor. Für viele ist das jedoch blanker Hohn. Gegen mehr als die Hälfte der Abgeordnet­en laufen Ermittlung­en, in den meisten Fällen wegen Korruption, aber auch wegen Geldwäsche, Behinderun­g der Justiz und Bestechlic­hkeit. „Dieser Kongress hat mit- nichten die moralische Autorität, die Wahl eines Staatsober­hauptes abzuhalten – unabhängig davon, wer kandidiert“, sagt Guilherme Boulos, Anführer der Landlosenb­ewegung MST. Das Land werde ansonsten eine „extrem gefährlich­e Radikalisi­erung erleben“.

Zusammen mit anderen Sozialverb­änden und den Gewerkscha­ften kämpft er für eine direkte Wahl des Staatschef­s durch das Volk. Die politische Hängeparti­e droht auch die vorsichtig­en Anzeichen eines wirtschaft­spolitisch­en Aufschwung­s nach drei Jahren Rezession wieder zunichtezu­machen. Als möglicher Nachfolgek­andidat wird von Abgeordnet­en Finanzmini­ster Henrique Meirelles genannt, der versproche­n hat, den Reformkurs fortzusetz­en.

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Foto: AP / Eraldo Peres „Temer raus“: Der Präsident schließt seinen Rücktritt aus.

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