Brasiliens Präsident spielt auf Zeit
Obwohl öffentlich Nachfolgekandidaten für Brasiliens Staatschef Michel Temer diskutiert werden, schließt er einen Rücktritt weiterhin aus. Die Staatskrise lähmt das Land. Das Militär musste der Präsident nach heftiger Kritik wieder von den Straßen abziehe
Kaum jemand glaubt noch an eine politische Zukunft von Präsident Michel Temer. Koalitionspartner verlassen das sinkende Regierungsschiff und diskutieren öffentlich Nachfolgekandidaten. Das Volk rebelliert, geschätzt 100.000 Menschen demonstrierten im Regierungsviertel von Brasília für den Rücktritt des Staatschefs, die Proteste endeten mit gewaltsamen Ausschreitungen.
Und was macht Temer? Er fordert das Militär zum Schutz der Regierungsgebäude an – eine Maßnahme, die quer durch alle politischen Lager auf heftige Kritik stößt und an die dunkle Zeit der Militärdiktatur erinnert. „Der König ist tot, aber noch nicht begraben“, bringt es der Politikwissenschafter Fernando Abrucio von der Universität Getúlio Vargas in São Paulo auf den Punkt.
Keine Regierungsfähigkeit
Für viele Beobachter ist der am Freitag beendete Einsatz von 1500 Soldaten ein trauriger Höhepunkt des Machtpokers, mit dem Temer das Land in Atem hält und politisch lähmt. „Der Präsident hat jegliche Regierungsfähigkeit verloren“, so Abrucio. Temer spiele auf Zeit, um seinen Rücktritt nicht wie ein Schuldeingeständnis aussehen zu lassen. Die Konsequenzen sind verheerend. Die Landeswährung Real hat nach den Korruptionsvorwürfen rund zehn Pro- zent an Wert eingebüßt, die Börsenkurse stürzten ab. Die Sorge vor weiteren Unruhen ist groß.
Temer wird beschuldigt, Schweigegeldabsprachen unterstützt zu haben, damit sein einstiger Verbündeter und jetziger Widersacher, Ex-Parlamentspräsident Eduardo Cunha, nicht sein ganzes Wissen über ein weitverzweigtes Korruptionsnetz preisgibt. In WildwestManier nahm der Unternehmer Joesley Batista dafür heimlich, aber mit Billigung der Ermittlungsbehörden ein Gespräch mit Temer auf. Der Präsident sagt, die Aufnahmen seien manipuliert. Allerdings sind dies bei weitem nicht die einzigen Vorwürfe gegen den 76-Jährigen: Er soll nicht nur von Batistas Fleischunternehmen JBS, sondern auch vom Baukonzern Odebrecht Millionen an illegaler Wahlkampffinanzierung erhalten haben, ein Teil des Geldes landete offensichtlich in seiner eigenen Tasche.
Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen. Für viele Brasilianer lautet deshalb der einzige Weg: Rücktritt des Präsidenten und Neuwahlen. Doch sieht die Verfassung aktuell nur eine indirekte Wahl eines neuen Staatschefs durch Abgeordnetenhaus und Senat vor. Für viele ist das jedoch blanker Hohn. Gegen mehr als die Hälfte der Abgeordneten laufen Ermittlungen, in den meisten Fällen wegen Korruption, aber auch wegen Geldwäsche, Behinderung der Justiz und Bestechlichkeit. „Dieser Kongress hat mit- nichten die moralische Autorität, die Wahl eines Staatsoberhauptes abzuhalten – unabhängig davon, wer kandidiert“, sagt Guilherme Boulos, Anführer der Landlosenbewegung MST. Das Land werde ansonsten eine „extrem gefährliche Radikalisierung erleben“.
Zusammen mit anderen Sozialverbänden und den Gewerkschaften kämpft er für eine direkte Wahl des Staatschefs durch das Volk. Die politische Hängepartie droht auch die vorsichtigen Anzeichen eines wirtschaftspolitischen Aufschwungs nach drei Jahren Rezession wieder zunichtezumachen. Als möglicher Nachfolgekandidat wird von Abgeordneten Finanzminister Henrique Meirelles genannt, der versprochen hat, den Reformkurs fortzusetzen.