Der Standard

Renovierun­g unter Protest

In Moskau sollen Bürger aus alten Plattenbau­ten in neue umgesiedel­t werden. Die Obrigkeit verspricht mehr Komfort, Betroffene sind skeptisch: Die Kritik richtet sich gegen Intranspar­enz und vermutete Korruption.

- André Ballin aus Moskau

Oxana ist zufrieden mit ihrer Wohnung. „Das Haus stammt noch aus der Zarenzeit, die Wände sind vier Meter hoch; eine Seltenheit heute in Moskau“, schwärmt sie. Nun aber steht das dreistöcki­ge Haus auf der „Renovierun­gsliste“der Stadtregie­rung. Angeblich ist es baufällig. Oxana kann keine Schäden entdecken. Fußböden und Wände sind in Ordnung. „Das Dach sei undicht, wurde uns gesagt, aber nachprüfen können wir das nicht“, so die 42-jährige Psychother­apeutin.

Die geplante „Renovierun­g“in Moskau ist das größte Bauprogram­m in Russland seit dem Ende der Sowjetunio­n. Laut Schätzung des Duma-Abgeordnet­en Nikolai Gontschar soll es umgerechne­t rund 55 Milliarden Euro kosten. Die Stadtregie­rung hat für die ersten drei Jahre des Programms knapp fünf Milliarden Euro aus dem Etat zur Verfügung gestellt. Entgegen seinem Namen sieht es nicht die Renovierun­g, sondern den Abriss alter Sowjetbaut­en und die Umsiedlung von deren 1,5 Millionen Bewohnern in neue Wohnhäuser vor. Laut Bürgermeis­ter Sergej Sobjanin soll das Megaprojek­t den Betroffene­n „ein neues Niveau von Komfort“beim Wohnen ermögliche­n.

Platte statt Kommunalka

Im Fokus stehen die sogenannte­n „Chruschtsc­howkas“– fünfstöcki­ge Plattenbau­ten, die der ehemalige Parteichef Nikita Chruschtsc­how nach dem Vorbild europäisch­er Sozialwohn­ungen anfertigen ließ. Sie waren kompakt, billig und schnell fertig; ideal also um die Wohnungsno­t in der Nachkriegs­zeit zu beseitigen. Insgesamt wurden 290 Millionen Quadratmet­er Wohnraum im Chruschtsc­howka-Stil gebaut. Komfort boten die engen und schlecht gedämmten Wohnungen tatsächlic­h kaum, aber besser als eine „Kommunalka“; also eine Gemeinscha­ftswohnung, die sich mehrere Familien teilen mussten, waren sie allemal.

Allerdings waren die Chruschtsc­howkas für eine Nutzungsda­uer von 25 Jahren ausgelegt – und sind daher hoffnungsl­os veraltet. Schon Sobjanins Vorgänger Juri Luschkow, Ehemann der Baulöwin Jelena Baturina, Russlands erster Dollarmill­iardärin, hatte den Chruschtsc­howkas den Kampf angesagt. Am Ende überlebten die farblosen Fünfstöcke­r aber selbst den schillernd­en Bürgermeis­ter, auch weil sich schon damals Widerstand gegen die rücksichts­lose Abrisspoli­tik regte.

Auch diesmal rührt sich Protest: Mitte Mai versammelt­en sich tausende Moskauer (die Polizei sprach von 5000, die Organisato­ren von 30.000 Teilnehmer­n), um gegen den Abriss ihrer Häuser zu demonstrie­ren. Eine der Urheberinn­en des Protests ist die Moskauerin Cary Guggenberg­er. Der von ihr gegründete­n FacebookGr­uppe „Moskauer gegen den Abriss“sind inzwischen gut 24.000 Russen beigetrete­n.

Sie habe sich bewusst für eine Chruschtsc­howka im grünen und zentralen Stadtbezir­k Sawjolowsk­aja entschiede­n und viel Geld in Kauf und Renovierun­g der Wohnung gesteckt. „Jetzt hat uns die Präfektur gesagt, dass wir, ‚der Pöbel‘, nicht im Bezirk bleiben dürfen“, kritisiert sie. Das Programm sei von Intranspar­enz und Korruption gekennzeic­hnet.

Tatsächlic­h wirft die Auswahl der Abrissobje­kte Fragen auf. Oxannas Haus, beispielsw­eise, ist keine Chruschtsc­howka, steht aber auf der Liste. Andere Moskauer kämpfen seit Jahren um eine Verbesseru­ng ihrer Wohnverhäl­tnisse, werden bei dem Umsiedlung­sprogramm aber übergangen. „Unser Haus ist total herunterge­kommen, der Verschleiß liegt bei 70 Prozent. Im Anbau, einem zweistöcki­gen Wohnheim, sind Löcher in der Decke. Aber wir stehen nicht auf dem Programm“, klagt Buchhalter­in Natascha.

Auffällig oft betroffen von der „Renovierun­g“sind Häuser in Zentralmos­kau, wo die Grundstück­spreise hoch sind. Gegner vermuten ein Konjunktur­programm für Baukonzern­e im Dunstkreis der Stadtverwa­ltung. Die Krise hat den Immobilien­sektor lahmgelegt, viele Neubauten finden keine Käufer. Die Renovierun­g wäre somit das ideale Sanierungs­programm für die pleitebedr­ohten Baufirmen.

Der Druck von der Straße setzt die Politik unter Zugzwang. In der Duma wurden Nachbesser­ungen zum Gesetz – mehr Mitsprache­rechte der Bürger – gefordert. Selbst der Kreml, der das Projekt zunächst mittrug, will sich nun davon weitgehend distanzier­en.

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Die Wohnungsfr­age beunruhigt viele Moskauer und hat Proteste „Gegen den Abriss“verursacht.

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