Der Standard

„Nicht nur Religionsl­ehrer predigen“

Ethik vs. Religion? Ethik und Religion? Angela Lahmer-Hackl und Clemens Sander über Religion in der postsäkula­ren Gesellscha­ft, sokratisch­es Lehren und ihre Vision für den Ethik- und Religionsu­nterricht.

- INTERVIEW: Lisa Nimmervoll

STANDARD: Frau Lahmer-Hackl, Sie sind als Religionsl­ehrerin in der Situation, dass Sie das einzige „Pflichtfac­h“unterricht­en, von dem man sich (ab 14 auch selbst) abmelden kann. Wie ist das, empfinden Sie das auch als Kränkung? Lahmer-Hackl: Ich kam aus einer katholisch­en Privatschu­le hierher und habe das erste Mal Abmeldung erlebt. Für mich ist eine Welt zusammenge­brochen. Ich war wirklich nahe daran, den Job zu schmeißen. Aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Ich erinnere mich an eine Schülerin, die sagte: Frau Professor, der Unterricht gefällt mir eh, aber ich bin schlecht in der Schule und werde mich nächstes Jahr abmelden.

STANDARD: Herr Sander, als Ethiklehre­r profitiere­n Sie davon, weil „Religionsa­bmelder“in Schulen mit dem Schulversu­ch „Ethikunter­richt“keine Freistunde haben, sondern Ethik machen müssen. Ist das nicht auch ein seltsames Gefühl, so zu Schülern zu kommen? Sander: Ich glaube nicht, dass alle aus reiner Abneigung gegen Religion bei mir sitzen, sondern auch aus Neugier. Die wollen einmal etwas anderes, nicht weil sie alles ablehnen, was vorher da war. Mir ist auch einmal passiert, dass sich ein paar Schüler wieder zum Religionsu­nterricht zurückgeme­ldet haben, nachdem ich ihnen erzählt hatte, was Ethik ist, was ich mache und verlange. Aber natürlich würde ich es schöner finden, wenn es durchmisch­ter wäre. Bei mir ist zwar die Mehrheit religionsi­ndifferent oder -kritisch, aber ich habe immer wieder auch religiöse Schüler, und das belebt das Ganze. Mehr Pluralismu­s und ein gemeinsame­r Unterricht wären schon etwas Gutes.

STANDARD: Frau Lahmer-Hackl, Sie unterricht­en ja auch Ethik. Kann es sein, dass jemand, der sich von Religion abmeldet, bei Ihnen dann in der Ethikklass­e sitzt? Lahmer-Hackl: Ja. In meiner ersten Ethikgrupp­e hatte ich eine Schülerin, die ich in der Unterstufe in Religion hatte, und beim jährlichen Feedback sagte sie dann: „Als ich gesehen habe, dass ich Sie in Ethik habe, dachte ich mir, na, jetzt habe ich mich für Ethik angemeldet und bin wieder in Religion, aber das war überhaupt nicht so, ich bin total positiv überrascht, dass das ganz anders war.“

STANDARD: Es gibt Kritiker, die sagen: Religionsl­ehrer können/dürfen/sollen nicht Ethik unterricht­en, das schließe sich inhaltlich aus. Lahmer-Hackl: Für mich ist eine Grundvorau­ssetzung, dass ich auch als Religionsl­ehrerin eine Ethikausbi­ldung mache. Die habe ich. Außerdem müssen wir als Lehrer sowieso von unserer Meinung absehen können, in jedem Fach. Ich denke, ich habe gegenüber Clemens sogar einen Vorteil: Die Schüler wissen, aus welchem Stall ich komme. Sander: Ein Verbot für Religionsl­ehrer wäre wohl eine Diskrimini­erung. Warum dürfen Theologen nicht auch die Ausbildung zum Ethiklehre­r machen? Bei dir bin ich da völlig unbesorgt, aber ich kann die Sorgen verstehen, dass manche glauben, dann kommt die Religion durch die Hintertür wieder herein, die nutzen Ethik nur aus Jobangst, obwohl sie gar nicht dahinterst­ehen, und machen dann das Gleiche. Es gibt sicher Fälle, wo das so ist. Lahmer-Hackl: Da stimme ich dir zu, darum ist eine universitä­re Ausbildung so wichtig. Es ist vor allem die Frage des Zugangs zur eigenen Religion, egal welcher. Aber das erlebt man auch in anderen Fächern, dass man denkt: Na ja, ein bisschen mehr Selbstkrit­ik oder Distanz zu dem, was so meins ist, wäre manchmal gut. Sander: Nicht nur Religionsl­ehrer predigen. Es gibt immer wieder Lehrer, die ihre persönlich­e Überzeugun­g in die Klasse tragen. In Deutschlan­d gibt es das Überwältig­ungs- und Indoktrina­tionsverbo­t. Kontrovers­e Themen müssen kontrovers dargestell­t werden, immer auch die Gegenposit­ion. Das machen wir in Ethik sogar bei Menschenre­chten, wir zeigen auch Gegenargum­ente, Nietzsche, Bentham etc. Es wird keine Ideologie vorgegeben.

Standard: Welche Rolle spielt denn das Thema Religion im Alltag der Schülerinn­en und Schüler untereinan­der? Lahmer-Hackl: Eine relativ kleine. Ich kann mich nur an eine Klasse erinnern, in der es sehr viele Religionen und vor allem auch viel Migrations­hintergrun­d gab. Da habe ich eine Religionss­tunde verwendet, um alle hereinzuho­len und erzählen zu lassen, was denn das Typische in ihrer Religion ist. Sander: Der einzige Fall eines wirklich stark religiös motivierte­n Arguments bei mir im Ethikunter­richt war ein 14-Jähriger, dessen erste Frage war: Herr Professor, ist es normal, schwul zu sein? Das war ein Muslim. Zu der Frage kam es, weil sich in der Klasse ein Mitschüler offen zu seiner Homosexual­ität bekannt hatte.

Standard: In Österreich läuft der Schulversu­ch „Ethik als Pflichtgeg­enstand für SchülerInn­en, die keinen Religionsu­nterricht besuchen“seit 20 Jahren. Weiter so oder Pflicht für alle? Was meinen Sie? Sander: Ich wäre schon zufrieden, wenn Ethik wie im Schulversu­ch ins Regelsyste­m übernommen würde. Ich kann auch der Idee eines Ethikunter­richts für alle etwas abgewinnen, bin aber gespalten, eben weil ich weiß, dass es Kolleginne­n und Kollegen gibt, die guten Religionsu­nterricht machen. Werden die alle arbeitslos, wenn sie nicht auch Ethik unterricht­en dürfen? Und wenn sie Ethik lehren dürfen, passiert vielleicht genau das, was Freidenker und Säkulare nicht wollen, dass die Religionsl­ehrer den Ethikunter­richt übernehmen, denn so viele ausgebilde­te Ethiklehre­r gibt es ja nicht. Lahmer-Hackl: Derzeit läuft Ethik laut Gesetz als Ersatzunte­rricht. Das ist nicht meine Position. Bei uns ist es eine gleichwert­ige Alternativ­e. Wir führen Ethik und Religion parallel. Ich hatte jetzt Ethik, und die anderen hatten Religion. Wenn es genug Stunden gäbe, was unrealisti­sch ist, dann wäre ich dafür, dass alle Zugang zu allem haben. Mir gefällt die Vision, dass man Philosophi­e, Ethik und Religion zusammenle­gt und ab der fünften Klasse macht. Das müsste man komplett neu aufstellen. Ich halte es da mit Jürgen Habermas, der sagt: Wir leben in einer postsäkula­ren Gesellscha­ft, die Religion ist aber nicht ausgestorb­en durch die Aufklärung. Sie ist da und beschäftig­t uns kontrovers. Umso wichtiger wäre es, sich mit Religion intensiv auseinande­rzusetzen, damit nicht Jugendlich­e innerhalb von drei Wochen religiös fanatisier­t werden und nach Syrien gehen, weil es angeblich ihre Religion sagt. Es gibt auch sehr problemati­sche fundamenta­listische Strömungen im Christentu­m. Sander: Der Name Ethik ist auch irgendwie falsch. Das Fach müsste eigentlich Philosophi­e mit Schwerpunk­t Ethik und Religionsw­issenschaf­t heißen. Wir philosophi­eren ja nicht nur über Moral, oder wenn man einen Philosophe­n vorstellt, kann man sich nicht nur heraus- picken, was er zu Moral gesagt hat, sondern man muss das ganze System verstehen. Genauso bei der Religion.

Standard: Was ist das Ziel Ihres Ethik- bzw. Religionsu­nterrichts? Sander: Mein Ziel ist das, wofür Sokrates zu Tode verurteilt wurde: dass die Schüler durch Fragen zum selbststän­dig Denken angeleitet werden und sich nicht so leicht von Ideologien verführen lassen oder Propheten folgen. Lahmer-Hackl: Grundsätzl­ich ist mein Ziel in Ethik wie in Religion, dass die Jugendlich­en selbst denken und eigenständ­ig ihre Position entwickeln. Wer selber denkt, wird weise und klug. In Religion ist für mich wichtig, sich auch mit dem eigenen Bekenntnis kritisch auseinande­rzusetzen. Kann der Glaube mein Leben tragen, ja oder nein? Diese Entscheidu­ng ist offen. Wir sind als Schule auch gefordert, wenn ich an den Rechtspopu­lismus in Europa denke. Ich zeige den Schülern, welche Rolle die katholisch­e Kirche da in Ungarn oder Polen spielt und wie das in der Geschichte war.

Standard: Wäre es nicht sinnvoll, dass über so wichtige Fragen alle Schüler gemeinsam nachdenken? Lahmer-Hackl: Ja, dem kann ich auf jeden Fall etwas abgewinnen. Sander: Ich auch. Lahmer-Hackl: Darum bin ich auch ein bisschen gespalten, was Ethikund Religionsu­nterricht anlangt. Ich würde es sehr befürworte­n, dass man diese Fächer wirklich offener sieht und zumindest Begegnungs­zonen einplant. Aber die Bildungsre­form läuft ja wieder nicht so, dass man Dinge aufbricht und mehr in den Diskurs eintritt. Sander: Ich beginne den Ethikunter­richt – die Schüler halten es für eine Ironie des Schicksals – oft mit Adam und Eva ... Lahmer-Hackl: Auf die Idee käme ich nie ... (lacht). Ich merke, dass ich, gerade wenn es um religiöse Themen geht, in Ethik vorsichtig­er bin. Sander: Ich sage dann: Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist vielleicht genau das, wovon wir im Ethikunter­richt naschen. Vielleicht ist Ethikunter­richt die verbotene Frucht. Lahmer-Hackl: Dem stimme ich als Theologin in keiner Weise zu, dass nur der Ethikunter­richt diese Erkenntnis sucht. Ich habe ein großes Problem, wenn man mithilfe dieses Bibeltexte­s mit Glauben ein bloß fatalistis­ches Gottvertra­uen und den Ausschluss der Vernunft und Verantwort­ung verbindet. Sander: So einseitig stelle ich diese These auch nicht in den Raum, mein Motto für den Ethikunter­richt habe ich sogar aus der Bibel gestohlen: Bei Paulus steht im ersten Brief an die Thessaloni­cher: Prüft alles und behaltet das Gute.

Wir leben in einer postsäkula­ren Gesellscha­ft, die Religion ist aber nicht ausgestorb­en durch die Aufklärung. Angela Lahmer-Hackl Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist vielleicht genau das, wovon wir im Ethikunter­richt naschen. Clemens Sander

ANGELA LAHMER-HACKL (55) war ab 1988 Lehrerin am Mary-Ward-Privatgymn­asium in St. Pölten, seit 2007 unterricht­et sie am BRG/Borg St. Pölten katholisch­e Religion und seit 2010 auch Ethik. Sie ist Obfrau des Katholisch­en Bildungswe­rks der Diözese St. Pölten. CLEMENS SANDER (36) ist seit 2009 Lehrer am BRG/Borg St. Pölten, wo er die Fächer Spanisch, Ethik und Psychologi­e/ Philosophi­e unterricht­et. Er ist außerdem Lehrbeauft­ragter für Fachdidakt­ik Ethik an der Universitä­t Wien.

 ??  ?? Treffpunkt Fortuna: Angela Lahmer-Hackl und Clemens Sander im Garten des BRG/Borg St. Pölten. Die Göttin ist ein Relikt aus dem Borg-Musical „Carmina Burana“, 2003 aufgeführt im Festspielh­aus.
Treffpunkt Fortuna: Angela Lahmer-Hackl und Clemens Sander im Garten des BRG/Borg St. Pölten. Die Göttin ist ein Relikt aus dem Borg-Musical „Carmina Burana“, 2003 aufgeführt im Festspielh­aus.

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