Das Kind und der Meister
In Warschau vor hundert Jahren (1): Akiba Rubinstein gegen Samuel Reshewski. Von ruf & ehn
Weiß war das Kind, der sechsjährige Szmul Rzeszewski, der seinen Namen leicht anglizierte, als er später auf der Flucht aus dem Elend und der drohenden Revolution mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten emigrierte. Samuel Reshewski wurde zu einem der wichtigsten Großmeister des 20. Jahrhunderts und stand mehrfach dicht vor der Weltmeisterschaft. Er starb nach unzähligen Turniergewinnen – hoch angesehen und längst amerikanischer Staatsbürger – 1992 in New York.
Schwarz war Akiba Rubinstein, der große polnische Meister, der 1882 im polnisch-russischen Gouvernement Lomza geboren worden war. Er hätte Schriftgelehrter werden sollen wie sein Vater, doch mit 16 Jahren war er nach Warschau aufgebrochen, um Schachweltmeister zu werden. Auch er war nahe dran, 1912 gewann er alle wichtigen Turniere des Jahres, Lasker wich einem Wettkampf mit ihm aus – dann begann der Erste Weltkrieg und machte alle Ambitionen auf ein Duell mit Lasker zunichte. Rubinsteins Partien waren von kristalliner Schönheit, fehlerlos, von spinozistischer Klarheit.
Sammy, der als sechstes Kind einer jüdisch-orthodoxen Familie in Ozorków geboren wurde, hatte kaum Schulbildung genossen. Noch nie hatte er ein Bilderbuch in der Hand gehabt, aber wie sein älterer Gegner Rubinstein war er ein Schachwunder. Als das Wunderkind durch seine Simultanvorstellungen bekannt wurde, testete Franziska Baumgarten, eine deutsche Psychologin, seine Fähigkeiten. In allem, was mit Sprache, mit Welt- wissen oder mit Rechnen zusammenhing, schnitt Sammy unterdurchschnittlich ab. Seine Vorstellungskraft für Raum und Formen war allerdings außergewöhnlich, seine Gedächtnisleistung nachgerade unheimlich. Am meisten beeindruckte die Psychologin das Auftreten des Kindes, es agierte selbstbewusst und unabhängig wie ein Erwachsener.
1917 war Reshewskis Familie über Lodz nach Warschau gelangt. Die politische Situation war unübersichtlich wie die Polugajewski-Variante in der Sizilianischen Verteidigung. Die russische Armee zog sich zurück, 1916 proklamierten Preußen und Österreich das Königreich Polen, Russland und die USA hatten andere Pläne. Ab September übernahm eine Troika im polnischen Regentschaftsrat die Macht, rund ein Jahr bevor Józef Piłsudski die Unabhängigkeit Polens erklären konnte. Die Stadt Warschau war noch Zentrum des kaiserlich deutschen Generalgouvernements, als Samuel erstmals den Schachklub in Warschau betrat. Das Erscheinen des Kindes erregte großes Interesse, auch Rubinstein wurde auf Sammy aufmerksam. Er nahm sich des Kindes an und spielte eine Partie mit ihm. Der Meister spielte blind, das heißt ohne Ansicht des Brettes. Hier die Partie des sechsjährigen Genies gegen das 35-jährige.
Rzeszewski – Rubinstein Warschau 1917
Obwohl der sechsjährige Reshewski zu diesem Zeitpunkt weder lesen noch schreiben konnte und deshalb auch keinerlei Kenntnis der Er- öffnungstheorie hatte, spielt er eine durchaus vernünftige Variante der italienischen Partie. Durch die frühe weiße Rochade und das zögerliche Vorgehen im Zentrum ermutigt, geht Akiba Rubinstein bereits aufs Ganze und startet einen gefährlichen Angriff. Ein Figurenopfer, das der kleine Meister falsch eingeschätzt hatte, denn er rechnete mit 9... hxg5? 10.Lxg5, wonach sein Plan aufgegangen wäre. Nach 9.hxg4 Lxg4 10.Le3 Tg8 bzw. 10.c3 Tg8 11.Kh2 hingegen war noch nicht viel passiert.
Obwohl Weiß keine Figur einbüßt, öffnet sich der weiße Königsflügel bedenklich.
nach
12.Te1 gxh3 Auch 13.Df3 Dd7 wackelt der weiße König ziemlich.
Mit der kindlichen Falle Dxe5+. Nach 13.Te1 Dd6 (nicht jedoch 13... dxc4? 14.Txe5+ Le7 15.Lxg5) 14.Df3 Dh6 15.Dh3 Dxh3 gerät Weiß wohl in ein verlorenes Endspiel.
Auch 13... e4 war sehr gut. Nach 14.dxe4 Dd6! kann Weiß das Matt auf h2 kaum mehr abwenden.
Mit einer handfesten Mattdrohung. Weiß muss sofort die Dame geben.
Erzwungen.
Der kürzeste Weg zum Gewinn. Rubinstein bringt den Turm nach g8 und spielt gegen die geschwächte weiße Königsstellung auf Matt. Um den lästigen Lc5 zu vertrei- ben, doch es ist zu spät. Auf 18.Le3 käme 18... Lxg4! 19.Lxc5 Lf3!
Oder 19.d4 Ld6 20.f4 f6 bzw. 19.Lf4 Txg4 20.g3 Txf4! 21.gxf4 Lh3 jeweils mit schnellem Gewinn.
Es drohte Lf3.
Ein durchschlagendes Opfer! Der Wunderknabe wird schlicht und einfach mattgesetzt.
Auf 22.Kh2 folgt einfach 22... Tg8 mit baldigem Abzugsmatt.
Den zeitgenössischen Berichten zufolge rief der Knabe hier laut „Schach!“aus Freude darüber, dem großen Rubinstein wenigstens ein Schach geboten zu haben.
0–1, denn Weiß wird in wenigen Zügen mattgesetzt.
Dd43. Lxd6 Kb72.
Lxg3 Sg3!!1. Vorwoche):( 2635 Lösungen: