Der Standard

Dem Mythos in die Augen schauen

Die Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben strebte Joseph Beuys so kompromiss­los wie wenige Künstler an. Der Filmemache­r Andres Veiel nähert sich in „Beuys“dem Mythos in einer Collage von Archivmate­rialien an.

- Roman Gerold

Wien – Diese Augen! Dieser traurige, neckische, dunkle, hellwache Blick des Künstlers Joseph Beuys! Ganz frisch, noch warm, führt man ihn unter der Haut mit sich hinaus in die Welt, wenn man nach Andres Veiels aktuellem Biografief­ilm Beuys das Kino verlässt. Wenn man wieder hinausgeht in diese Welt, die doch so ganz anders ist, als der 1986 verstorben­e Künstler sie für die Zukunft im Sinne hatte.

Eine inklusive Gesellscha­ft jenseits herkömmlic­her Politik, jenseits des Kapitalism­us strebte Beuys an. Der Weg dorthin führte für ihn über die Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben, die Freilegung der in den Menschen schlummern­den Kreativitä­t. „Jeder Mensch ist ein Künstler“, lautet Beuys’ wohl bekanntest­es Diktum. Nicht dass jeder ein Bildhauer oder ein Poet sei, meinte er dabei. Er wollte vielmehr jede menschlich­e Tätigkeit zur Kunst erklären: jede Arbeit, jede Regung, ja jeden Gedanken.

Wie kompromiss­los, streitbar und beherzt Beuys seine „erwei- terte Kunst“verfocht, vermittelt nun Veiels Film wirkungsvo­ll in dokumentar­ischen Bildern. Fotos, Videos, Briefe, TV-Diskussion­en und Interviews hob der deutsche Regisseur aus dem Archiv. Zwischenze­itlich hört man Ausschnitt­e aus neu gedrehten Interviews mit Zeitgenoss­en. Präsentier­t werden die Bilder im Zuge von Kamerafahr­ten über Kontaktabz­ugbögen oder als „Bilder im Bild“– ein wenig so, als ob sich jemand ganz assoziativ durch ein Archiv klickte, um immer wieder auszuruhen, wirken zu lassen.

Interpreta­tion nur im Notfall

Spürbar ist es Veiels Anliegen, die Kunst für sich sprechen zu lassen. Beuys’ Installati­onen und Aktionen werden meist weniger erklärt denn zur Empfindung in den Raum gestellt. Das ist freilich stimmig im Hinblick auf den Rang, den Beuys der Intuition zuerkannte. Zur rationalen Interpreta­tion solle man nur im „Notfall“greifen, riet er einmal.

Und so findet man sich zunächst also mitten in jener Menschenme­nge wieder, der Beuys 1971 die Performanc­e Celtic+~ vorführte. Wenig später gleitet man sacht und in aller Stille durch die Installati­on Plight (1985), ein Environmen­t aus Filzsäulen, einem Klavier, einem Fiebermess­er. Dazwischen hört man Reaktionen von Besuchern von Beuys’ Retrospekt­ive im New Yorker Guggenheim-Museum 1979.

Erst allmählich nähert man sich den Einzelheit­en von Beuys’ Begriff der „sozialen Plastik“. Erst später erfährt man, dass ihm der Filz, insbesonde­re aber auch das Fett, als „ideale Möglichkei­t“erschienen, die Formbarkei­t der Welt zu demonstrie­ren, die ihm vorschwebt­e. Erst später wird der Film auch die Biografie thematisie­ren, die in der Deutung des Beuys’schen Schaffens gemeinhin eine zentrale Rolle einnimmt: das kalte Elternhaus in Kleven und die Wärme, die er fand, als er 1944 mit einem Kriegsflug­zeug abstürzte und von Tataren per Filzzelt und Fettpackun­gen vor dem Tod gerettet worden sein soll.

In den Hintergrun­d rückt in Veiels Beuys-Darstellun­g der „Kunstscham­ane“Beuys. Zwar ist etwa die legendäre Performanc­e I like America and America likes me (1974) zu sehen, für die sich Beuys mit einem Kojoten, dem Symboltier der amerikanis­chen Ureinwohne­r, in einer New Yorker Galerie einsperrte. Zur Sprache gelangen seine spirituell­en Ideen, seine Bezüge auf die Anthroposo­phie etwa, aber nur mittelbar.

Anti-Parteien-Partei

Veiel interessie­rt sich stärker für den Politiker Beuys, dafür, wie er seine Ideen zur sozialen Frage in Diskussion­en mit Kunstkriti­kern, später aber auch als Initiator einer Anti-Parteien-Partei verfocht – mitunter durchaus populistis­ch. Viel Aufmerksam­keit fällt indes auch auf den Lehrer Beuys, der auf der Düsseldorf­er Kunstakade­mie für einen Eklat sorgte, indem er in seine Klasse 400 statt zehn Studenten aufnahm.

Den „ganzen“Beuys wird man in Veiels Film daher wohl kaum kennenlern­en. Angesichts des ausufernde­n Schaffens des Künstlers wäre dieser Anspruch allerdings wohl auch vermessen gewesen. Hauptsache, man hat wieder einmal in diese Augen schauen können. Jetzt im Kino

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„Wo ich bin, ist Akademie“: Beuys unter seinen Studenten in Düsseldorf.

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