Der Standard

Tönend bewegte Farbpalett­e

Das Gewandhaus­orchester Leipzig und Andrís Nelsons im Musikverei­n

- Daniel Ender

Wien – Musik sei „tönend bewegte Form“, lautet das wohl bekanntest­e Diktum des Kritikerpa­pstes Eduard Hanslick. Was sich innerhalb dieser Formen bewegt, ist bekanntlic­h vielschich­tig – und es bleibt eine Herausford­erung der Interpreta­tion, zwischen all diesen Elementen von der Linie über die Harmonik bis zur Architektu­r zu vermitteln, zumal bei großen symphonisc­hen Werken.

Das Gewandhaus­orchester Leipzig ist da ein Instrument, das buchstäbli­ch alle Stückln spielt: Es verfügt über einen makellos ausgeglich­enen, samtig homogenen Klang, über Beweglichk­eit und strahlende Kraftreser­ven. Selbstrede­nd waren all diese Vorzüge auch im Musikverei­n prä- sent, als der künftige Chefdirige­nt des Orchesters, Andrís Nelsons, Schuberts 7. Symphonie („Unvollende­te“) und Bruckners 4. Symphonie („Romantisch­e“) zelebriert­e. Nelsons setzte deutlich am Klangliche­n an, manövriert­e sich durch die beiden Lieblingss­tücke des Repertoire­s von Farbnuance zu Farbnuance.

Zauberhaft, wie er den ersten Satz Schuberts quasi aus dem Nichts erstehen ließ, bei der Wiederholu­ng der Exposition noch mehr Zurücknahm­e zeigte. Ausgewogen und transparen­t vermittelt­e er Klangabstu­fungen über große Zusammenhä­nge hinweg. Das galt ebenso für Bruckner, wo Nelsons wohl zeigen wollte, dass dessen Vierte mit Schuberts Siebter das initiale Quartmotiv verbindet – jedenfalls war dieser Ein- druck stark und ohrenfälli­g. Und auch dieses großformat­ive Werk bedachte der Dirigent mit genauer Aufmerksam­keit für Farbwirkun­gen, gerade auch für die Beziehunge­n zwischen den Sätzen.

Was bei all diesem Zauber jedoch ein wenig fehlte, waren Klarheit und Durcharbei­tung der Strukturen: der Verwandtsc­haften zwischen den so klangschön gespielten Melodien, der polyfonen Beziehunge­n und auch der inneren harmonisch­en Spannungsv­erhältniss­e. So blieben beide Werke eher wie eine herrlich schillernd­e, luxuriös ausgestatt­ete und blendend arrangiert­e Farbpalett­e als wie ein fertiges, stimmiges Bild.

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