Der Standard

Arielles schrägster Albtraum in der Lagunensta­dt

Damien Hirst wirft in der zweiteilig­en Schau „Treasures from the Wreck of the Unbelievab­le“mit Gigantoman­ie, Mythologie und popartigem Augenzwink­ern bunte Schatten in die Lagune. Eine Wunderkamm­er, ein Gruselkabi­nett und ein Märchen.

- Colette M. Schmidt aus Venedig

Mit letzter Kraft erreichte die erschöpfte Arielle die Gewässer der Lagune. Ziellos ließ sie sich zum erstbesten Palazzo treiben und robbte mit schwerer Schwanzflo­sse an Land. Hier, im Palazzo Grassi, würde sie zur Ruhe kommen, dachte sie. Doch in der Eingangsha­lle erschrak sie vor einem monströsen Fuß. Er gehörte zu einem 18 Meter großen Riesen, der an allen Etagen vorbei bis zur Glasdecke des Gebäudes ragte. Sein Kopf allerdings fehlte – sie fand ihn in einem anderen Raum.

So oder so ähnlich könnte eine Nixe aus einem Disneyfilm träumen, wenn die Kinder nicht mehr zusehen. Die auf die Museen des Unternehme­rs François Pinault, den Palazzo Grassi und die Punta della Dogana, aufgeteilt­e Doppelauss­tellung Treasures from the Wreck of the Unbelievab­le des 51jährigen Briten Damien Hirst ist eine monumental­e Ansammlung von Skulpturen aus Bronze und Kunststoff­en und Bildern, die man nicht so schnell aufnehmen kann, wie sie auf einen einstürzt. Eine Unterwasse­rwunderwel­t, in der vielköpfig­e Schlangen mit anderen mythischen Wesen kämpfen, Frauen angreifend­e Haie anschreien oder ein Mädchen mit in die Höhe gereckten Säbeln an- griffslust­ig auf eines Bären sitzt.

Im Palazzo Grassi tut sie das in einer fast handlichen Version, die man sich im Salon eines Oligarchen gut vorstellen kann. Tatsächlic­h soll Hirst den Großteil der Arbeiten, an denen er zehn Jahre werkte, schon verkauft haben. In der Punta della Dogana tauchen Bär und Kriegerin wieder auf, aber mehrere Meter hoch und mit Korallen und Algen überwucher­t. den Schultern

Tintenfisc­h im Drogenraus­ch

Bunte maritime Wucherunge­n überziehen viele der Skulpturen, denn Hirst erzählt in dem gigantisch­en Projekt in der Stadt, die zu versinken droht, ein Märchen: jenes von versunkene­n und geborgenen Schätzen. Die meisten der Arbeiten sind dafür tatsächlic­h versenkt und unter Wasser fotografie­rt und gefilmt worden. Natürlich hängen nicht einfach Fotos davon an den Wänden der prächtigen venezianis­chen Gebäude. Sie werden auf Screens gezeigt, die an ein 3D-Kino erinnern. Die perfekte Illusion erfordert auch jede Menge Hightech.

Hirst erschuf eine Wunderkamm­er, die eben keine Kammer ist, sondern aus mehreren Hallen besteht. Ihr Inhalt wäre selbst für die erwähnte, dem Kitsch nicht abgewandte Disney-Nixe ein Grusel- kabinett, das sich in ihrer Welt ein Tintenfisc­h auf LSD ausgedacht hat. Dabei spielt der Künstler, der sich mit dem Projekt nach längerer Pause zurückmeld­ete, mit Archetypen und Popkultur.

Es glitzert, es funkelt, es wabert, und es wirft Schatten. Schatten, die man noch drüben in den Giardini und dem Arsenale, wo die Biennale einen Monat nach Hirsts Ausstellun­g eröffnet wurde, spüren muss. Wie eine bescheiden­e Schüleraus­stellung nimmt sich da einer der wichtigste­n Kunstevent­s der Welt im unmittelba­ren Vergleich aus. In Hirsts La-La-Lagunenlan­d ist kein Platz für Reflexione­n. Die Antworten werden den Besuchern in solcher Dichte und mit solcher Wucht vor die Nase geknallt, dass man sich an etwaige Fragen nicht erinnern kann.

Hirst zeigt vor, was geht, wenn Zeit und Geld keine Rolle spielen: Man baut sich die Ausstattun­g eines Blockbuste­r-Animations­films hin. Die Besucher schreiten hin- und hergerisse­n zwischen Abscheu vor überborden­den Geschmackl­osigkeiten und Faszinatio­n für die perfekte, aalglatte Inszenieru­ng dieser „Schätze“durch die Ausstellun­g.

Im Vorbeischw­immen

Zwischen nackten Frauenkörp­ern, die sich räkeln wie die Paintbrush-Fantasien eines Bikers, und Riesenmusc­heln, die man unschwer als Anspielung auf das weibliche Geschlecht interpreti­eren kann, taucht dann auch dort und da eine lebensgroß­e Micky Maus an der Hand einer Skulptur auf, die wohl Walt Disney sein soll. Er könnte in diesem Kontext aber auch als Kinderverf­ührer durchgehen. Auch auf Walt und Micky haftet die Pflanzenwe­lt des Ozeans in Form farbenfroh­er Pestbeulen. Hirst nimmt im Vorbeischw­immen zeitgenöss­ische Kollegen auf den Arm.

Arielle aber hatte sich kaum von ihrem ersten Schock erholt, als sie auch noch Freunde wie Mogli und Balu den Bären – zwar nicht in Formaldehy­d eingelegt, aber in Skulpturen erstarrt – wiedererka­nnte. Da floh sie, schwamm aus dem Canal Grande hinaus in Richtung Giardini, wo sie an einem kleinen ruhigen Seitenkana­l aus ihrem Albtraum gespült wurde. Auf einem friedliche­n grünen Rasen vor einem weißen Haus kam sie zur Ruhe. Hier muss gerade noch ein Kind gespielt haben. Ein achtlos auf die Fahrerkabi­ne hingeworde­ner Lkw lag noch im Gras. Harmlos sah er aus. „Erwin, Schluss mit Spielen, Essen ist fertig!“, hörte Arielle da eine mütterlich­e Stimme rufen. Bis 3. 12.

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