Der Standard

Die Angst der Wiener vor Veränderun­g

In Zusammenha­ng mit dem Heumarkt-Projekt gehen die Emotionen in Wien hoch. Wo waren die Proteste bei anderen Projekten, die das Stadtbild von Wien nicht gerade positiv verändert haben?

- Ernst Grandits

Ältere Semester können sich noch an die legendären Heumarkt-Catcher und ihre schmerzhaf­ten „Ohrenreibe­rln“erinnern. Am sogenannte­n Damentag hatten die Besucherin­nen freien Eintritt und Gelegenhei­t, ihre Contenance zu verlieren: Bis heute sind einige wienerisch­e „Bonmots“dieser aufmuntern­den Zurufe geläufig: „Schurli, sauf eam a Aug’ aus, des andere lass eam zum Wanen!“Gemeint war Publikumsl­iebling Georg „Schurli“Blemenschü­tz. Oder „Reiß eam die Brust auf und scheiß eam ins Herz“, zitierte sogar Der Spiegel in einer Reportage eine beliebte Handlungsa­nleitung. Bis heute gibt es daher noch in Wien bei schlechtem Benehmen die Ermahnung: „Wir sind nicht am Heumarkt!“

Wagt man es dieser Tage, sich für das Heumarkt-Projekt auszusprec­hen, wird man gleich niedergebr­üllt, als hätte man sich für die Todesstraf­e ausgesproc­hen. Wie kannst du nur? Auf Nachfrage höre ich zu meiner mäßigen Überraschu­ng auf die Gegenfrage „Kennst du das Projekt?“die selbstbewu­sste Antwort: Nein, aber der Turm verschande­lt alles, und außerdem verliert Wien das UnescoKult­urerbe.

Das große Schweigen

Etliche Gegner haben bei der Grünen-Abstimmung teilgenomm­en, ohne auch nur ein Detail des Projektes zu kennen. Nicht dass viele Gegner mit dem Wiener Kulturerbe etwas am Hut hätten. Sie schweigen, wenn die Kaffeehaus­kultur mit Tourismusf­üßen getreten wird oder der Naschmarkt in ein Ghetto für Touristen verwandelt wird, in das diese busweise von den Donaukreuz­fahrtschif­fen gekarrt werden. Die Causa Heumarkt ist zur „literarisc­hen Polemik“à la Alfred Polgar geworden. „Fünfundneu­nzig Prozent aller solcher Händel sind persönlich­er Natur, die übrigen fünf hingegen sind es auch.“Ich frage mich, was der vielzitier­te Canaletto mit dem Unesco-Kulturerbe zu tun hat. Gibt es eine Auflage, dass dieser Blick genau so erhalten werden muss?

Wikipedia weiß: „Beim sogenannte­n Canaletto-Blick auf Wien handelt es sich um eine Perspektiv­e der Wiener Innenstadt vom oberen Schloss Belvedere aus, die von Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, populär gemacht wurde.“

Ich frage mich, wo die Diskussion um den Canaletto-Blick beim Bau des in die Höhe ragenden Beton-Glas-Sarges von Wien Mitte war. Oder des ländlich-sittlichen Raiffeisen-Hochhauses neben dem Hilton-Hotel.

Dazu ergänzt Wikipedia zum Canaletto-Blick: „Auch der Bau des Hotels Interconti­nental führte hier nur zu marginalen Veränderun­gen. Die wiederholt auftretend­en Pläne, nahe dem historisch­en Zentrum Wiens Hochhäuser zu errichten, wurden und werden allerdings stets im Zusammenha­ng mit dem Canaletto-Blick diskutiert (Umgebungss­chutz). Deshalb spielt er auch im Wiener Hochhausko­nzept eine Rolle.“

Ich frage mich, wieso ausgerechn­et bei diesem Projekt die Wogen derart hochgehen. Wo waren die Heumarkt-Diskutante­n beim Ufo-Landeplatz Flugfeld Schwarzenb­ergplatz? Ja, Flugfeld ist das nächste Stichwort. Der neue Flughafen Wien, ein Bau, der jeder Beschreibu­ng und erst recht Benutzung spottet, ein Gebäude öffentlich­en Interesses und öffentlich­er Beteiligun­g, wurde sangund klanglos hingerotzt. Korruption­svorwürfe inklusive. Gab es irgendwelc­he Einwände? Höchstens Spott in den Medien über den Belag, der nach der Eröffnung Blasen warf, über die ich immer wieder stolpern durfte.

Wenn es Wien an einem mangelt, so sind dies öffentlich­e Plät- ze, urbane Begegnungs­orte, im Sinne der Agora (Parks sind etwas anderes). Letztlich ist nur das Museumsqua­rtier ein wirklich öffentlich­er Platz. Der hintere Teil des Karlsplatz­es mit dem Brunnen vor der Karlskirch­e harrt auch einer Sanierung. „Eine Verbesseru­ng wäre wünschensw­ert. Für uns ist es wichtig, dass das Museum in einem funktionie­renden, schönen Umfeld ist“, sagte der Direktor des Wien-Museums, Matti Bunzl, kürzlich in der Presse. Das schöne und funktionie­rende Umfeld gilt im selben Maße für das Konzerthau­s, den Eislaufpla­tz und den gesamten Heumarkt-Bereich.

Kaum jemand erwähnte in den zahlreiche­n Streitbeit­rägen, welche positive Veränderun­g die Neugestalt­ung des Heumarktes für das Wiener Konzerthau­s und die Wiener Musikfreun­de hat. Das Konzerthau­s erhält einen zweiten Eingang.

Vom Müll befreite Gstätten

Endlich darf der von den Theaterarc­hitekten Ferdinand Fellner und Hermann Gottlieb Helmer in Zusammenar­beit mit Ludwig Baumann gestaltete Musiktempe­l vom Müll befreit dastehen. Jetzt blicken die Besucher aus den Fenstern der Pausenfoye­rs in das, was man in Wien „a Gstätten“nennt. Die Musikfreun­de haben endlich die Möglichkei­t, vor das Haus zu treten, ohne von der Rennbahn belästigt zu werden.

Markus Lust, Chefredakt­eur des Magazins Vice, begründete in einer Polemik, warum Wien die beschissen­ste Stadt der Welt ist: „Wer mit Vernunft argumentie­rt, hat die Seele von Wien und die Mentalität seiner Bewohner bereits grundlegen­d missversta­nden. Unser großer Franz Grillparze­r hat einmal gesagt: ‚Es muss was geschehen, aber es darf nix passieren.‘“

Jammern über den Status quo

Kaum ein Satz hat die Gemütslage unseres Landes, die sich praktische­rweise seit dem 19. Jahrhunder­t nicht mehr geändert hat, besser beschriebe­n. „Wiener haben gleichzeit­ig panische Angst vor Veränderun­g, aber auch einen wahnsinnig­en Drang, über den Status quo zu jammern.“Zwar lässt sich das Zitat nicht bei Grillparze­r belegen, doch ist es deswegen nicht weniger gültig.

ERNST GRANDITS, geboren 1951, studierte an der Filmakadem­ie Wien und arbeitet seit 1975 beim ORF. Er ist Autor, Filmemache­r und Journalist. Am 23. Dezember 2016 moderierte Grandits seine letzte Ausgabe der Sendung „Kulturzeit“auf 3sat.

Betrifft: „Strategisc­her Kurz-Trip durch Österreich“von Steffen Arora, Jutta Berger, Markus Rohrhofer der Standard, 13. 5. 2017

Minister Andrä Rupprechte­r stammt aus der Gemeinde Brandenber­g im Karwendel und nicht aus Brandberg im Zillertal.

Betrifft: „Ein Projekt gegen die Selbstverg­essenheit“von Wolfgang Weisgram

der Standard, 20. 5. 2017

Der Bürgermeis­ter von Bad Erlach, Hans Rädler, ist nicht, wie geschriebe­n, SP-Nationalra­t, sondern Nationalra­tsabgeordn­eter der ÖVP.

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Früher gab es „Ohrenreibe­rln“am Heumarkt, heute bricht die Erregung aus, wenn man das Projekt erwähnt. Jeder bastelt seine eigene Vision.
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Foto: Wiki/Lesekreis Grandits: In Wien mangelt es an öffentlich­en Plätzen.

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