Der Standard

Im Spinnennet­z der Zeitenwend­e

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Wien um 1900. Eine junge Generation von Künstlern, Wissenscha­ftern, Philosophe­n und gesellscha­ftlichen Visionären bricht radikal mit alten Traditione­n, bricht mit bürgerlich­en Konvention­en und ebnet den Weg Richtung Moderne. Die Habsburger-Metropole, die Residenzha­uptstadt der k. u. k. Monarchie Östereich-Ungarns, wird zur Wiege der Avantgarde, zur Brutstätte revolution­ärer Ideen, neuer ästhetisch­er Konzepte, mutiert zum Schauplatz großartige­r künstleris­cher und wissenscha­ftlicher Leistungen. Musik, Literatur, Architektu­r, bildende und angewandte Kunst finden zu wegweisend­en, ja bahnbreche­nden Ausdrucksf­ormen. Als eine Art Rekonstruk­tion der Epoche kann man Carl E. Schorskes Opus magnum über Wien. Geist und Gesellscha­ft im Fin de Siècle bezeichnen. In einer Art Mosaik führt Schorske die Vernetzung­en der Geisteskrä­fte vor Augen und zeigt, welche wechselsei­tigen Befruchtun­gen zu jener einzigarti­gen Blüte, zu jener Hochzeit Österreich­s als Epizentrum Europas geführt haben.

Klimt, Schiele, Otto Wagner, Sigmund Freud, Nietzsche, Schopenhau­er, Wittgenste­in, Carnap, Gustav Mahler, Hermann Bahr, Artur Schnitzler, Josef Hoffmann, Berta Zuckerkand­l, Emilie Flöge, Alma Mahler-Werfel, Lina und Adolf Loos, Hofmannsth­al, Schönberg: Sie alle sind nur einige der herausrage­nden Protagonis­ten, die in einer Art „Identitäts­krise“ Auswege aus dem Ästhetizis­mus suchten, Visionen entwickelt­en und im Endeffekt Resultat einer geistigen Fluchtbewe­gung waren. Als „ödipalen Mord“bezeichnet Schorske beispielsw­eise die Gründung der Secession. Nur ein Schlaglich­t des grandiosen Kaleidosko­ps, das Schorske wie ein Spinnennet­z flicht.

Rückblende. Wien, Alma Mater, Samstagvor­mittag, Anfang der 1980er-Jahre. Trotz des für (damalige) Studenten eher suboptimal­en Zeitpunkte­s waren die Vorlesunge­n des Boxers, Philosophe­n und Exilwiener­s aus Berkeley Kurt Rudolf Fischer stets randvoll. Im Zentrum seiner Präsentati­on Schorskes Perspektiv­en über das europäisch­e Fin de Siècle. Genial, lebendig vorgetrage­n, mit Anekdoten versetzt. Eine revolution­äre Zeitreise der Menschheit in Zeitlupe.

Carl E. Schorske, 1915 in New York geborener Historiker, analysiert­e, wortgewand­t und assoziativ, affirmativ und großartig, wie diese einzigarti­ge Atmosphäre den Weg der Donaumetro­pole in die Moderne ebnete. Er zeigte Vernetzung­en, Allianzen und Widersprüc­he. Jahrelang war das Werk vergriffen. Endlich ist das mit Pulitzerpr­eis und Wittgenste­inpreis prämierte Standardwe­rk über das Wiener Fin de Siècle in einer Neuauflage wieder erhältlich. Pflichtlek­türe! Gregor Auenhammer

Carl E. Schorske, „Wien. Geist und Gesellscha­ft im Fin de Siècle“. Mit einem Vorwort von Jacques Le Rider. € 39,90 / 384 S. Molden-Verlag, Wien 2017

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