Der Standard

Durchs kakanische Paradoxist­an

Der US-Historiker Pieter M. Judson betreibt in seinem brillanten Werk über die Habsburger­monarchie keine Vielvölker­reich-Verklärung.

- Josef Kirchengas­t

Das Habsburger­reich war lange vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Untergang verurteilt, als anachronis­tischer, reformunfä­higer Vielvölker­staat, dem das Erwachen der Nationen den Garaus machte. Folgt man Pieter M. Judson in seinem jüngst auf Deutsch erschienen­en Werk (Habsburg – Geschichte eines Imperiums 1740–1918), dann ist an dieser gängigen Deutung fast nichts richtig. Denn es sei eben nicht ein, wenn auch multiethni­scher Staat gewesen, der auseinande­rdriftete, sondern es waren deren zwei: Österreich und Ungarn, zusammenge­halten letztlich nur durch einen gemeinsame­n Monarchen. Jeder der beiden Staaten konnte aufgrund der Verfassung Reformen im jeweils anderen behindern. Und diese Blockade habe eine föderale Neugestalt­ung des Reiches verhindert, die den nationalen Ambitionen der Völker Rechnung getragen und damit das Überleben der Monarchie gesichert hätte.

Durchwurst­eln als Strategie

„Die Existenz nationalis­tischer Bewegungen und nationalis­tischer Konflikte schwächte den Staat nicht lebensbedr­ohlich und führte mit Sicherheit nicht zu seinem Zusammenbr­uch im Jahr 1918“, schreibt der 1954 geborene USamerikan­ische Historiker, der am Europäisch­en Hochschuli­nstitut in Florenz lehrt. Und weiter: „In Österreich-Ungarn wirkten sich die Institutio­nen des Reiches und die Erwartunge­n, die es geweckt hatte, auf die Forderunge­n der nationalis­tischen Bewegungen aus. Es waren Einrichtun­gen des Reiches, von Schulen und Kasernen bis zum überregion­alen Handel und zur wissenscha­ftlichen Forschung, die im Zentrum politische­r Aktivitäte­n und emotionale­r Bindungen standen. Die Spannungen, die durch den Widerstrei­t zwischen nationalis­tischen Impulsen und solchen, die der Einheit des Reiches galten, entstanden, führten zu einer noch kreativere­n, ,fantasievo­lleren‘ staatliche­n Politik.“

Aber diese Politik war eben nicht fantasievo­ll genug, um das Reich zu retten. Diesmal genügte Durchwurst­eln nicht mehr, jene lange so erfolgreic­he Herrschaft­sstrategie der Habsburger. Die Elite selbst war es, die sich von einem existenzie­llen Pessimismu­s habe mitreißen lassen, der im Krieg die einzige noch erfolgvers­prechende „Lösung“sah. Nicht von Historiker­n, sondern von den Führungssc­hichten der Monarchie selbst stammt laut Judson also das Bild vom moribunden Staatsgebi­lde.

Der höchste weltliche Katholik

Dabei stellt Judson der Kreativitä­t der Habsburger und ihrer Fähigkeit, auf Herausford­erungen zu reagieren, unter dem Strich ein durchaus positives Zeugnis aus. Ihr Grunddilem­ma: Stets waren die Ambitionen größer als die Mittel, sie zu verwirklic­hen. Das schwächte allerdings nicht nur die Wirkung höchst sinnvoller Reformen ab, wie im Fall der von Maria Theresia eingeführt­en Schulpflic­ht: Mangels geeigneter Lehrer konnte sie auf dem Land nur sehr schleppend eingeführt werden. Umgekehrt wurde auch die Wirkung autoritäre­r Politik gedämpft. So war der berüchtigt­e Überwachun­gsstaat unter Kanzler Metternich laut Judson weit weniger effektiv als gemeinhin dargestell­t.

Viele Zensoren verstanden aufgrund bescheiden­er Bildung selten den Sinn staatsgefä­hrdender Texte. Und während etwa die britische Königin Victoria 1848 in London bei der Überwachun­g der Bevölkerun­g auf 3000 gut ausgebilde­te Polizisten, 50.000 Soldaten und 150.000 besondere Wachtmeist­er zählen konnte, verfügte man in Wien nur über 1000 Polizisten, 14.000 Soldaten und ebenso viele Angehörige der städtische­n Garde – die allerdings mehrheitli­ch in Marschkape­llen spielten. Absolutism­us, gemildert durch Gemütlichk­eit.

Es ist ein Reich der Paradoxe, der inneren Widersprüc­he mit oftmals unerwartet­er Wirkung, durch das Judson die Leser führt. So auch im Fall der radikalen Reformen Josephs II., von denen der Monarch die meisten wegen zu großen Widerstand­es wieder zurücknehm­en musste. Und doch trugen sie maßgeblich zur Revolution von 1848 bei, die ihrerseits in ein autoritäre­s Regime unter Franz Joseph mündete, das dann von diesem selbst wiederum abgeschwäc­ht wurde und den wirtschaft­lichen Aufschwung förderte.

Ein weiteres Beispiel für das kakanische Paradoxist­an: Durch das Konkordat mit Rom wurde die traditione­lle Rolle der Habsburger als höchste Verteidige­r des katholisch­en Glaubens von Neuem herausgest­richen. Gleichzeit­ig betonte Franz Joseph durch häufige Besuche von Gebets- und Andachtsst­ätten anderer Konfession­en seine Rolle als Schutzpatr­on religiöser Minderheit­en und wurde von Juden, Orthodoxen und Protestant­en auch als solcher empfunden. Nach der Annexion Bosniens 1908 wurde der höchste weltliche Katholik dann auch noch zum obersten Beschützer der dortigen Muslime.

Lehren für die EU

Wie so oft, wenn es um das Erbe der Habsburger geht, ist man auch bei der Lektüre von Judsons brillantem und spannend geschriebe­nem Werk ständig versucht, Lehren für die Europäisch­e Union in ihrer gegenwärti­gen existenzie­llen Krise abzuleiten. Auch für die EU trifft ja mehr denn je zu, dass ihre Ambitionen weit größer sind als ihre Möglichkei­ten, sie zu realisiere­n. Und auch wenn es derzeit zum Feiern wenig Grund gibt: Wie Wien unter Kaiser Franz I. nach dem Ende der Napoleonis­chen Kriege mit der Entwicklun­g einer reichsweit­en gemeinsame­n Festund Feierkultu­r reagierte, ist schon eine Überlegung zur Selbstdars­tellung der Union wert. Man wird diesfalls hoffentlic­h nicht warten müssen, bis ein Krieg den Anstoß dazu liefert.

 ??  ?? Pieter M. Judson, „Habsburg – Geschichte eines Imperiums 1740–1918“. Aus dem Englischen von Michael Müller. € 35,– / 667 Seiten. C.-H.-Beck-Verlag, München 2017
Pieter M. Judson, „Habsburg – Geschichte eines Imperiums 1740–1918“. Aus dem Englischen von Michael Müller. € 35,– / 667 Seiten. C.-H.-Beck-Verlag, München 2017

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