Der Standard

Das Paradies hat nie existiert

„Zuhause“: Daniel Schreibers Meditation über einen schwierige­n Begriff.

- Oliver Pfohlmann

Wie wichtig ist es, ein Zuhause zu haben? Gar nicht, behauptete einst der von den Nazis in die USA vertrieben­e Philosoph Theodor W. Adorno. Denn mit diesem überkommen­en Konzept versuche man sich nur über die Katastroph­en dieser Welt hinwegzutä­uschen. Daniel Schreiber, Jahrgang 1977, fühlte sich einer solchen Reaktion auf traumatisc­he Verlusterf­ahrungen lange wahlverwan­dt. In seinem neuen Buch erinnert der Journalist und SusanSonta­g-Biograf eindrückli­ch, wie er als heranwachs­ender Homosexuel­ler in der mecklenbur­gischen Provinz noch den Psychoterr­or der DDR-Pädagogik durchleide­n musste.

Nach der Wende habe er sich daher umgehend in die Verheißung­en urbaner Freiheit gestürzt, erst in Hamburg, dann in New York und London. Erst Jahre später, nach dem Ende einer Bezie- hung, sei ihm die „Leerstelle“in seinem Nomadenleb­en bewusst geworden. Schon 2014 machte er in Nüchtern seine Alkoholkra­nkheit zum Thema eines persönlich­en Essays. Auch Zuhause ist eine anregende Meditation über einen schwierige­n Begriff in einer immer unheimlich­er werdenden Welt. Und zugleich die Rekonstruk­tion von Schreibers eigener Suche nach einem Ort, der für ihn Stabilität und Bindung bedeuten könnte.

250 Millionen Menschen

Beides in Auseinande­rsetzung mit Philosophe­n, Soziologen und Psychoanal­ytikern, aber auch mit den eigenen Vorfahren. Denn wie so viele deutsche Familienge­schichten ist auch die der Schreibers geprägt von Vertreibun­gen und Neuanfänge­n. Heute, in Zeiten von Globalisie­rung und Flüchtling­skrise, leben 250 Millionen Menschen in einem Land, in dem sie nicht geboren wurden. Daher werde das Zuhause immer mehr zu einem „imaginären Ort“, „gleicherma­ßen ein realer wie ein innerer, spirituell­er oder sozialer Ort“. Verklärend-nostalgisc­hen Sehnsüchte­n erteilt Schreiber eine Absage: Das Zuhause sei kein Paradies, aus dem wir einst vertrieben wurden, weil dieses nie existiert habe. „Sich ein Zuhause zu suchen bedeutet nicht, nach einer besseren Stadt Ausschau zu halten, (...) einem anderen Land. Sich ein Zuhause zu suchen bedeutet, einen Ort in der Welt zu finden, an dem wir ankommen – und dieser Ort wird zuallerers­t ein innerer Ort sein, ein Ort, den wir uns erarbeiten müssen.“Wozu die Lektüre von Schreibers Essay schon ein guter Anfang wäre.

Daniel Schreiber, „Zuhause. Die Suche nach einem Ort, an dem wir leben wollen“. € 18,– / 144 Seiten. Hanser, Berlin 2017

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