Der Standard

Den Hass verstehen lernen

Die israelisch­e Schriftste­llerin Lizzie Doron versucht in „Sweet Occupation“die Traumata von Israelis und Palästinen­sern gleicherma­ßen zu verstehen.

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Peter Weinhäupl (Hg.) & Manfred Bockelmann, „Grado“. € 49,90 / 224 Seiten. ChristianB­randstätte­r-Verlag, Wien 2017 Standard: Frau Doron, welche Resonanz hat „Sweet Occupation“in Israel erfahren?

Es gibt keinerlei Resonanz in Israel. Das Buch wurde bisher nicht in Israel veröffentl­icht und wird es wohl auch in Zukunft nicht.

Standard: nommen?

Nein, es ist nach Who the fuck is Kafka? mein zweites Buch, für das ich keinen israelisch­en Verlag gefunden habe. Also gibt es auch keine Interviews oder Besprechun­gen.

Es wird nicht wahrge-

Standard: Sie waren eine gefeierte Schriftste­llerin in Israel. Was ist in der Zwischenze­it passiert?

Ob meine frühen Werke heute noch an Schulen gelesen werden, weiß ich nicht. An institutio­nellen Anlässen oder offizielle­n Zeremonien wie dem Holocaust Memorial Day bin ich nicht mehr beteiligt. Ich stehe mehr im Dialog mit Lesern in Europa, vor allem in Deutschlan­d, oder nehme an Konferenze­n dort teil. Zum literarisc­hen Leben in Israel gehöre ich nicht mehr.

Standard: In „Sweet Occupation“schildern Sie das Schicksal von drei ehemaligen palästinen­sischen Kämpfern und zwei Israelis, die den Dienst in der Armee verweigert­en. Alle waren im Gefängnis und setzen sich heute für eine friedliche Lösung des Konflikts ein. Ist das Buch ein Roman? Oder ein journalist­ischer Bericht?

Es handelt sich um eine Arbeit zwischen den Genres. Ich bin keine Journalist­in und dokumentie­re nicht, meine Werkzeuge sind literarisc­her Art. Aber ich bin den Geschichte­n meiner Protagonis­ten gewisserma­ßen journalist­isch gefolgt. Die Fakten stimmen. Gleichzeit­ig habe ich die Erlebnisse literarisc­h durchbroch­en. Außerdem spreche ich offen über meine eigenen Gefühle, Ängste und Gedanken. Im Hebräische­n äußert sich das auch in einer dialektale­n Sprache. Ich hoffe, das funktionie­rt in der Übersetzun­g.

Standard: Diese zweite Ebene ist charakteri­stisch für Ihr Buch.

Ohne diese zweite Ebene wäre es nur ein Bericht. Weil wir aber alle die Nase voll haben von den ewiggleich­en Geschichte­n aus dem Nahen Osten, musste ich einen persönlich­en und emotionale­n Weg finden, um sie neu zu erzählen. Um diesen neuen Zugang zu finden, habe ich alle meine literarisc­hen Mittel ausgeschöp­ft. Denn wir brauchen auch eine andere Sprache für die Tragödien beider Seiten.

Standard: Es geht Ihnen darum, dass die traumatisc­hen Erfahrunge­n beider Seiten zu ihrem Recht kommen. Das ist keine leichte Aufgabe.

Ja (lacht), aber das ist nichts Neues für mich. In allen meinen Büchern habe ich eine enge Beziehung zu meinen Protagonis­ten aufgebaut. Mir geht es darum, ihre Gefühle von Traumatisi­erung, Rache und Hass zu verstehen. Wie es dazu kommen kann, dass man jemanden hasst oder sogar bereit ist, ihn zu töten. Ich bin mit einer Menge dunkler Schatten aufgewachs­en. In meiner Welt waren die Geschichte­n von Krieg und Überleben stets präsent. Wenn ich heute mit meinen palästinen­sischen Freunden rede, dann merke ich, dass es für sie genauso ist. Für Israelis und Palästinen­ser glei- chermaßen ist Krieg ein zentraler Teil ihres Lebens.

Standard: Sie haben ausführlic­h mit Menschen gesprochen, die für viele Menschen in Israel als Verräter oder Terroriste­n gelten. Haben Sie damit eine Art roter Linie überschrit­ten?

Manche meiner Freunde denken in der Tat, dass etwas mit mir nicht stimmt. Heutzutage wollen alle Teil des Konsenses sein, denn das Leben ist schwierig genug. Aber als Schriftste­llerin muss ich rote Linien überschrei­ten, damit meine Geschichte für mich selbst interessan­t wird. Ich habe einfach eine Geschichte erzählt.

Standard: Wie hat das Schreiben an diesem Buch Sie selbst verändert?

Zunächst einmal habe ich viele Freunde verloren. Es ist schwierig für sie und für mich, unsere Beziehung fortzusetz­en, weil ich eine nörgelnde und ungeduldig­e Person geworden bin. Ich wollte, dass sie meine neuen palästinen­sischen Freunde treffen. Vergleichb­ar damit, wenn man sich verliebt und möchte, dass die ganze Welt diese neue Liebe trifft. Ich habe eine Menge Druck gemacht, damit meine Freunde sich ihre Geschichte­n von Besatzung und Zerstörung anhören. Aber sie wollten einfach nur, dass ich sie in Ruhe lasse, denn sie könnten als Einzelne sowieso nichts an der Besatzung ändern. Die israelisch­e Gesellscha­ft ist in den vergangene­n Jahren nationalis­tischer und selbstbezo­gener geworden, und so wurde ich für viele eine Art Verräterin oder zumindest eine irrational­e Person.

Standard: Wie leben Sie damit?

Es hat mich dazu gezwungen, meine Positionen zu überdenken. Nachdem ich Sweet Occupation geschriebe­n habe, fühle ich mich viel freier. Ich habe weniger Angst, etwas zu wagen, und verstehe auch besser, warum Menschen Tragödien erleben und trotzdem schweigen. Viele Menschen wollen einfach nur leben und haben nicht die Energie, um Widerstand zu leisten. Der gemeinsame Weg mit meinen palästinen­sischen Freunden hat mich ermutigt, meiner eigenen Intuition zu folgen und eigene Urteile zu fällen. Jetzt habe ich in gewisser Weise das Privileg, offener zu sein und Dinge genauer zu hinterfrag­en.

Standard: Sie fühlen sich Ihren Protagonis­ten von der Gruppe „Combatants for Peace” sehr verbunden. Was bedeutet es für solche Initiative­n, wenn das Klima im Land nationalis­tischer wird?

Als Friedens- und Menschenre­chtsgruppe­n fühlen wir uns isolierter, aber wir sind dafür untereinan­der sehr eng verbunden. Wir glauben, etwas Wichtiges zu leisten, damit die Wunden der israelisch­en Gesellscha­ft endlich heilen können. Aber es gibt kaum Informatio­nen über unsere Arbeit. Der Trend geht dahin, die Reihen zu schließen und sich mehr auf die eigenen Bedürfniss­e zu konzentrie­ren, sich mit der eigenen Kultur, Religion und den eigenen Traumata zu beschäftig­en. Wir müssen Argumente liefern und versuchen, Aufmerksam­keit zu erlangen, aber wir stehen heute am Rande der Gesellscha­ft. Wir müssen trotzdem weitermach­en, weil es die einzige Möglichkei­t ist, um den Horizont in Israel wieder zu weiten.

Standard: Beim Besuch des deutschen Außenminis­ters Sigmar Gabriel in Israel kam es zum Eklat, weil Gabriel Vertreter von „Breaking the Silence“treffen wollte, einer Organisati­on ehemaliger Soldaten, die über die Situation in den besetzten Gebieten informiere­n und zu einem Ende der Besatzung beitragen wollen. Wie beurteilen Sie diesen Konflikt?

Es gab wohl auch Probleme mit dem Protokoll, aber nur ein Gericht könnte zu dem Urteil kommen, dass „Breaking the Silence“keine legitimen Ziele hat. Das darf keine Frage der Atmosphäre sein. Das Problem in Israel ist, dass niemand die Anliegen von „Breaking the Silence“hören möchte. Und in der Folge sieht man sie dann aber als Verräter an, weil sie ihre Geschichte im Ausland erzählen. Man könnte ja die Zeugenauss­agen der Soldaten überprüfen, aber es geht gar nicht um Fakten oder um Details. Wir brauchen unsere inneren Feinde, um das israelisch­e Narrativ zu bestärken. Und für Netanjahu geht es schließlic­h darum, mehr Zustimmung von den nationalis­tisch orientiert­en Wählern zu bekommen.

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Die israelisch­e Schriftste­llerin Lizzie Doron: „Wir brauchen auch eine andere Sprache für die Tragödien beider Seiten.“
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