Der Standard

„Die Persönlich­keitsstruk­tur spielt eine wichtige Rolle“

Der Innsbrucke­r Neurologe Thomas Berger erforscht seit 22 Jahren Ursachen und Behandlung von multipler Sklerose. Er ist ein Verfechter der individuel­len und ganzheitli­chen Therapie.

- Steffen Arora

INTERVIEW:

Standard: Multiple Sklerose (MS) verläuft meistens in Schüben. Wodurch ist ein solcher Schub gekennzeic­hnet? Berger: Per definition­em versteht man darunter neu auftretend­e oder wiederkehr­ende neurologis­che Beschwerde­n, die mindestens 24 bis 48 Stunden andauern und die nicht durch etwas anderes erklärbar sind. Diese Definition ist sehr wichtig, um echte von sogenannte­n Pseudoschü­ben zu unterschei­den. Denn Prognose und Therapie der Krankheit hängen sehr stark mit den Schüben zusammen. Das heißt, wenn ein vermeintli­cher Schub keiner ist, kann man hier sehr schnell auf dem falschen Dampfer sitzen.

Standard: Wie kommt es zu solchen Pseudoschü­ben? Berger: Pseudoschü­be sind in erster Linie über Temperatur­erhöhung definiert. Das hat einen physikalis­chen Grund: An der Stelle der Nerven, wo ein Schaden war, bildet sich die Myelinschi­cht wieder zurück, aber nicht im ursprüngli­chen Ausmaß. Das beeinträch­tigt die normale Funktion nicht. Aber wenn es zu einer Temperatur­erhöhung kommt, wird die Signalüber­tragung am Nerv an genau dieser Stelle blockiert, weil das temperatur­sensibel ist, und die Leute spüren genau dieselben Symptome wieder.

Standard: Soll man jeden Schub, wenn er als solcher erkannt wird, mit Cortison behandeln? Berger: Ja, jeder eindeutige Schub sollte mit Cortison behandelt werden, nach dem Motto kurz und hochdosier­t. Es macht hier keinen Sinn, zwischen leichtem oder schwerem Schub zu unterschei­den, weil die Wahrnehmun­g der Fol- gen subjektiv ist. Daher gilt das Dogma, dass jeder Schub behandelt werden muss.

Standard: Wie ist es um die Medikament­e bestellt, die Schübe generell vermeiden sollen? Gibt es darunter eines, das am wirksamste­n ist? Berger: Das ist von Mensch zu Mensch verschiede­n. Derzeit sind 13 Medikament­e in Österreich zur Behandlung der schubförmi­gen MS zugelassen, wobei heuer wohl noch drei dazukommen werden. Sie alle haben einen unterschie­dlichen, behauptete­n Wirkmechan­ismus. Behauptet deshalb, weil schon das bei einer Krankheit, von der man nicht genau weiß, was sich immunologi­sch wirklich im Individuum abspielt, schwer zu sagen ist. Man muss zudem zwischen Wirksamkei­t und Nebenwirku­ngen abwägen. Bei einem Krankheits­verlauf mit vielen Schüben wählt man das wirksamste Medikament, auch wenn es vielleicht stärkere Nebenwirku­ngen hat.

Standard: Bedarf es in der Behandlung von MS folglich eines individual­isierteren Umgangs mit den Patienten? Berger: Ich habe eine holistisch­e Vorstellun­g in der Behandlung von MS. Dazu möchte ich gern eine Art Persönlich­keitsprofi­l der Patienten erstellen. Denn ich glaube, dass die Persönlich­keitsstruk­tur beim Umgang mit einer Krankheit, die mich nicht zwangsweis­e körperlich, aber auf jeden Fall emotionell ein Leben lang beschäftig­en wird, eine wichtige Rolle spielt. Das heißt, dass ich basierend auf der klassische­n MSTherapie je nach Typ das individuel­le Therapiean­gebot erweitere. Das reicht von Komplement­ärmedizin bis hin zu Psychother­apie oder von mir aus auch Trommeln im Wald. Warum nicht, wenn es jemandem hilft? Ich spreche also von einer Individual­isierung über das Ganzheitli­che und nicht allein über Biomarker, von denen ich im Übrigen aber auch ein großer Fan bin.

THOMAS BERGER (53) ist Neurologe und stellvertr­etender Direktor der Klinik für Neurologie an der Medizinisc­hen Universitä­t Innsbruck. Zudem ist er Leiter der Multiple-Sklerose-Ambulanz Innsbruck, wo derzeit rund 3000 Patienten betreut werden.

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Foto: Fischer Neurologe Thomas Berger von der MedUni Innsbruck.

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