„Es muss nicht immer Lebensgefahr sein“
Die unterschiedlichen Interessen Europas und Afrikas sind die größte Hürde, um die Flüchtlingskrise zu beenden, sagt der Migrationsexperte und Politikwissenschafter Belachew Gebrewold. Rettungseinsätze im Mittelmeer betrachtet er differenziert. INTERVIEW:
Standard: Vor kurzem wurde bekannt, dass Sie die Uno bei der Erstellung eines „Global Compact for Migration“unterstützen sollen. Was ist dabei das Ziel? Gebrewold: Damit sollen unter anderem die Rechte von Migranten und Flüchtlingen geschützt werden, weil die Menschenrechte in der Migrationspolitik vieler Länder zu kurz kommen. Aktuell finden Gespräche in den verschiedensten Weltregionen statt, um die jeweiligen Eigenheiten zu berücksichtigen, deshalb kann man jetzt noch keine Details nennen. 2018 sollte diese Übereinkunft dann fertig sein.
Standard: Wie soll verhindert werden, dass diese UN-Initiative nicht genauso verpufft wie andere Verstöße, etwa was Aufnahmezusagen für syrische Flüchtlinge oder Spendengelder betrifft? Gebrwold: Das ist ein Problem, das viele internationale Abkommen betrifft. Wer zahlt wie viel, wer leistet welchen Beitrag? Wie das in diesem Fall umgesetzt werden soll, ist ebenfalls noch unklar.
Standard: Sie haben an der United Nations University in New York einen Vortrag vor Diplomaten und NGO-Vertretern über die Reaktion der EU-Staaten auf die Flüchtlingskrise gehalten. Ihr Fazit? Gebrewold: Die Interessen der EU-Staaten auf der einen Seite und der Herkunftsstaaten auf der anderen Seite sind vollkommen asymmetrisch. Migration ist für Europa ein primäres Problem, aber nicht für die Herkunftsländer. Umgekehrt beschäftigt diese verstärkt die globale Wirtschaftsordnung, der Klimawandel und dessen Folgen wie Dürre oder Überschwemmungen, was für die Industriestaaten aber nicht so wichtig ist. In diesem Fall sind die Entwicklungsländer von den Industriestaaten abhängig, bei der Migration ist es umgekehrt.
Standard: Wie sollen diese Interessenunterschiede beendet werden? Gebrewold: Das geht nur mit einem klaren Bekenntnis, dass man das endlich als gemeinsames Problem betrachtet. Migration ist nicht nur ein europäisches Problem, und Klimawandel ist nicht nur ein Problem der Herkunftsstaaten. So wie bislang, dass die Industriestaaten strukturell viel zu wenig machen und lediglich humanitär helfen und die Herkunftsstaaten nur fordern, aber selbst wenig in Sachen Migration tun, das ist nicht zielführend.
Standard: Sehen Sie Anzeichen, dass es zu dieser Einsicht kommt? Gebrewold: Es bewegt sich viel mehr als früher. Die Zusammenarbeit ist in den vergangenen Jahren intensiver geworden, weil unter anderem die Landflucht durch den Klimawandel verstärkt vorkommt. Gleichzeitig erhöht Europa den Druck auf die Herkunftsstaaten, etwas in Sachen Migration zu tun.
Standard: Für Ihr jüngstes Buch „Understanding Migrant Decisions“wurde mit Migranten aus verschiedenen Ländern gesprochen. Es ging es um die Frage, weshalb Menschen den subsaharischen Raum verlassen und die oft lebensgefährliche Reise in Richtung Europa antreten. Gebrewold: Es gibt Fälle, wo Kriege und Konflikte Flucht verursachen. Dann gibt es jene, die aufgrund des verschlechterten Klimas keine Lebensgrundlage mehr sehen. Es gibt auch global einen neuen sozialen Wandel, dass junge Menschen verstärkt auswandern auf der Suche nach einem besseren Leben. Und dann gibt es Länder wie etwa Ghana oder Nigeria mit einer langen Emigrationstradition, das hat nichts mit den Lebensbedingungen dort zu tun. Die Wahrscheinlichkeit, dass aus jenen Ländern, aus denen bereits viele Menschen geflüchtet sind, noch mehr kommen, ist aktuell sehr hoch, weil durch Smartphones und andere Kommunikationsmethoden im Internet schnell und einfach Infos über Routen weitergegeben werden können – oder wie schwer der Zugang zu Zielländern gerade ist. Es muss also nicht notwendigerweise immer eine akute Lebensgefahr sein, die zur Flucht oder Migration führt.
Standard: Welche Rolle spielt das Bevölkerungswachstum in Afrika bei den Fluchtursachen? Gebrewold: Es spielt natürlich eine Rolle, vor allem dort, wo Landknappheit herrscht. Zuerst ziehen junge Menschen in die Städte. Gibt es dort keine Arbeit, verlassen sie das Land. Grundsätzlich nimmt die Geburtenrate aber in vielen afrikanischen Ländern ab, trotzdem berichten westliche Medien und auch Wissenschafter alarmistisch darüber. Standard: Die Bevölkerung Afrikas soll sich laut einem Bericht des Population Reference Bureau in Washington bis 2050 auf 2,4 Milliarden verdoppeln. Ist das auch alarmistisch? Gebrewold: Ja, das ist alarmistisch, weil viele Aspekte bei solchen Prognosen nicht berücksichtigt werden. Ich bin diesbezüglich anderer Meinung, weil manche UN-Berichte in eine andere Richtung gehen.
Standard: Es gibt immer wieder Kritik an NGOs, die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer retten, weil dies angeblich weitere Menschen zur Flucht bewegt. Außenminister Sebastian Kurz hat in diesem Zusammenhang von „NGO-Wahnsinn“gesprochen. Haben die Migranten, mit denen für das Buch gesprochen wurde, das als Fluchtmotiv genannt? Gebrewold: Nein, das wurde nicht genannt. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass des- halb mehr Menschen die Flucht wagen, weil es sich rasch herumspricht, wenn so viele gerettet und dann nach Europa gebracht werden. Wenn es keine Rückmeldungen aus Europa in die jeweilige Heimat gäbe, weil es keiner geschafft hat, wäre es wohl anders.
BELACHEW GEBREWOLD (48) ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck mit Schwerpunkt internationaler Migration und europäisch-afrikanischer Beziehungen und Leiter des Departments Soziale Arbeit / Sozialpolitik am Management Center Innsbruck. Außerdem ist der Politikwissenschafter Mitglied des Migrationsrats für Österreich. Er studierte in Addis Abeba, Hamburg und Innsbruck.