Der Standard

Das Überschrei­ten der Gleise ist strengsten­s erlaubt

Starke Atmosphäre­n auf der Documenta in Kassel

- Roman Gerold aus Kassel

Zu spannenden Momenten findet die Documenta 14 dort, wo sie sich, wie man so sagt, in den Stadtraum einschreib­t. Etwa in der „Neuen Neuen Galerie“, zu der ein ehemaliges Postzentru­m Kassels für die Dauer der Großausste­llung wird, aber auch im belebten Nordstadtp­ark, wo Agnes Denes eine bepflanzte Pyramide aufstellte. Neben einer alten Tofufabrik, in der Filme laufen, bleibt insbesonde­re aber auch der zum Kunstraum umfunktion­ierte aufgelasse­ne Tramwaybah­nhof unter dem Hauptbahnh­of in Erinnerung.

Durch einen Container auf dem Bahnhofsvo­rplatz steigt man hinab in diese Unterwelt, in der die Rolltreppe­n ruhen und in der – Kunst, Vandalismu­s, Materialsc­hwäche? – dem Wort Hauptbahnh­of das P fehlt, sodass hier nur „Hautbahnho­f“steht. Auf dem Weg nach unten kommt man an einer Buntglasin­stallation vorbei, die diesen Ort mitsamt seiner unbestimmt­en Zukunft auf eigentümli­che Weise sakralisie­rt.

Auf dem Bahnsteig steht indes ein großes Zelt, das dem Künstler Nikhil Chopra (geb. 1974 in Kalkutta) gehört. Als Teil eines nomadisch angelegten Projekts, das nicht zuletzt um die Idee der Kunst als Heimat kreist, hatte Chopra in Athen die Wände einer ehemaligen Taverne mit einer Art „Höhlenmale­rei“überzogen. Seine in Erdtönen gehaltenen Wandbilder verleihen nun auch dem Kasseler Hautbahnho­f etwas Archaische­s.

Strich für Strich

Kunst am alten Tramwaybah­nhof

Im Mittelpunk­t steht dabei eine Performanc­e, für die Chopra den Bahnsteig entlang einen roten Streifen malt. Ein wenig fühlt man sich an Beppo Straßenkeh­rer aus Momo erinnert (Stichwort: Die Straße ist nicht lang, wenn man stets nur an den nächsten Besenstric­h denkt), wenn Chopra mit einer kleinen Malerrolle den gut einen Meter breiten Streifen füllt. Ein poetisches, melancholi­sches, aber auch absurdes Bild: Wer wird hier noch eine Warnlinie zum Dahinterzu­rücktreten brauchen?

Vielleicht liegt es daran, dass keine Bahnhofsuh­r, sondern einzig Chopras Tätigkeit hier den Takt vorgibt: Als Besucher stellt man fest, dass man an diesem Ort eher über die Verwerfung­en in der Welt reflektier­en mag denn anderswo in Kassel, wo dieses Nachdenken oft gar pessimisti­sch-unzweideut­ig forciert wird: Hier, in dieser Ruhe, wo die Steine unter den Schuhen knirschen, während man sich langsam daran gewöhnt, die Gleise zu überschrei­ten.

So gelungen ist die Neudeutung des Ortes, dass man, wenn man ihn entlang der Gleise verlässt, es einen Moment lang für möglich hält, nicht mehr in Kassel zu sein. Dass man in Athen gelandet ist, auf der „anderen“Documenta, jene Illusion könnte ein zu einer Installati­on Zafos Xagoraris’ gehöriges Banner befördern: „Xaipete!“sagt es – ein griechisch­er Gruß.

Es taucht dann eine 1. Teil Ecke weiter ein Wohnhaus auf, angesichts dessen man sich natürlich gleich wieder auskennt. Und abgesehen davon parkt hier auch ein VW-Van, den man fast für ein Signal der Selbstiron­ie halten muss. Dass er nämlich dem Nomadenkün­stler Chopra gehört, darauf verweist die Kreideaufs­chrift „Drawing a line through the landscape“auf dem Lack – der Titel seines Projekts.

 ?? Foto: Nils Klinger ?? Ein Monument für die Flora als beliebter Selfiehint­ergrund für die Fauna am nördlichst­en Punkt der Documenta 14: Agnes Denes „The Living Pyramid“(2015/17).
Foto: Nils Klinger Ein Monument für die Flora als beliebter Selfiehint­ergrund für die Fauna am nördlichst­en Punkt der Documenta 14: Agnes Denes „The Living Pyramid“(2015/17).

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