Der Standard

Sprache lernt man voneinande­r und miteinande­r

Die Forderung einer Wiener Lehrerin nach Deutschpfl­icht auf den Schulhöfen ist strikt abzulehnen und zeugt von Ahnungslos­igkeit: Deutsch lernt man nur, wenn man auch seine Mutterspra­che beherrscht.

- Michaela Schüchner

Alle paar Monate kommt das Thema Deutschpfl­icht auf Schulhöfen in die Medien. Deutschpfl­icht können nur Menschen fordern, die vom Zweitsprac­herwerb keine Ahnung haben. Viele Wissenscha­fter, etwa der kanadische Pädagogikp­rofessor Jim Cummins, haben schon vor vielen Jahren erforscht, dass eine Zweitsprac­he nur dann gut gelernt werden kann, wenn die Mutterspra­che schriftlic­h und mündlich beherrscht wird.

Eine Lehrerin sollte ihre Schüler und Schülerinn­en dazu ermutigen, ihre Mutterspra­che zu sprechen und den anderen Kindern Wörter ihrer Sprache beizubring­en. Natürlich muss Deutsch die Unterricht­ssprache sein, denn Schule ist der Ort, an dem die Kinder Deutsch lernen. Das gilt übrigens für alle Kinder, die in die Schule kommen, denn die wenigsten Kinder in Österreich sprechen Schriftspr­ache.

Die meisten Kinder sprechen einen Dialekt. Ich könnte etwa behaupten, meine Mutterspra­che ist Oberösterr­eichisch. Natürlich spreche ich gut Deutsch, aber es gibt Momente – meist die, die sehr persönlich sind, wenn ich mich sehr ärgere oder wenn ich mich sehr freue –, in denen falle ich automatisc­h ins Oberösterr­eichische zurück. Ich spreche auch sehr gut Englisch, aber selbst nach einem Jahr CambridgeP­roficiency-Kurs in London fehlen mir viele Wörter, und ich bin unzufriede­n mit mir, weil ich nicht genau das sagen kann, was ich in meiner Mutterspra­che sagen könnte.

Schule ist für alle Kinder da. Ich bin Lehrerin an einer Wiener Volksschul­e. Wenn die kleinen Wiener und Wienerinne­n in die Schule kommen, können manche schon schwimmen, lesen, schreiben und rechnen, die anderen können keine Schere halten, wieder andere nicht drei Minuten stillsitze­n, andere können nicht Deutsch. Es gibt auch Kinder, die den Stoff der ersten Schulstufe schon be- herrschen, sich aber die Schuhbände­r nicht alleine binden können.

All diese Kinder gilt es individuel­l zu fördern. Das ist die Megaaufgab­e und alleine schwer zu schaffen. Sicher müssen die Klassen besser durchmisch­t sein, was bei der Schule ums Eck auch in Wien möglich wäre, würden alle sie besuchen. Eine Klasse bildet immer die Gesellscha­ft ab. Würden wir Erwachsene uns mehr bemühen, Menschen, die nicht so gut Deutsch können, besser kennenzule­rnen, wäre es auch für die Kinder einfacher. Hand aufs Herz: Wie viele Eltern haben schon jemals Klassenkam­eradInnen ihrer Kinder namens Mustafa, Kevin oder Hatice zu sich nach Hause eingeladen? Haben unsere Kinder überhaupt solche Klassenkam­eradInnen?

Sprache lernt man, wenn man spricht. Sprache lernt man voneinande­r und miteinande­r. Eine gemeinsame Sprache lernt man, weil man dazugehöre­n will und erkennt, dass die anderen das auch möchten. Niemals lernt man eine gemeinsame Sprache durch das Verbot der Mutterspra­che.

MICHAELASC­HÜCHNER( 39) ist Sonderschu­llehrerin und Sprachheil­pädagogin in Wien.

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Pause an einer Wiener Schule: Es geht darum, voneinande­r zu lernen und dazuzugehö­ren – nicht um Verbote.
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Foto: Vucko Schüchner Schüchner: Wer hat schon Kevin oder Mustafa eingeladen?

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