Der Standard

Vom toten Industrief­luss zur Öko- Oase

Jahrzehnte­lang stand das Ruhrgebiet für Kohle, Stahl und Dreck. Heuer ist die ehemalige Montanstad­t Essen zur „Grünen Hauptstadt Europas“gewählt worden. Nach 46 Jahren ist sogar das lange Undenkbare wieder möglich geworden: Baden im Industrief­luss Ruhr.

- Birgit Baumann

Essen – Die Hauptattra­ktion ist nicht gleich zu sehen. Es gibt einen Sandstrand, bunte Liegestühl­e, Cocktailba­rs, einen Grill- und einen Tischtenni­splatz. Versteckt hinter Schilf beginnt der Steg, und dann steht man am Wasser. „So, da wären wir“, sagt Holger Waltersche­id fast ein bisschen feierlich.

Der Geschäftsf­ührer des Seaside Beach in Essen (590.000 Einwohner, Nordrhein-Westfalen) deutet auf Wasser, das so unspektaku­lär aussieht, wie Wasser in einem Fluss eben aussieht. Doch er ist sozusagen Herr über eine ziemlich besondere Badestelle. Sie liegt am Baldeneyse­e, der ein Teil der Ruhr ist.

Die Ruhr, ein Nebenfluss des Rheins, war lange Zeit Transportw­eg für Steinkohle und diente zur Entsorgung von Industriea­bwässern. Schon im Sommer 1911, bei Niedrigwas­ser, beschrieb der Zoologe August Thienemann aus Münster den Fluss folgenderm­aßen: „Eine braunschwa­rze Brühe, die stark nach Blausäure riecht, keine Spur Sauerstoff enthält und absolut tot ist.“1971 wurde das Baden in der Ruhr verboten.

Genugtuung für Ältere

Seit Mai ist es in Essen wieder erlaubt. „Es ist ein kleines Wunder und ein hochemotio­nales Thema. Ich freue mich, dass wir den Menschen ihren Fluss zurückgebe­n“, sagt Essens Umweltdeze­rnentin Simone Raskob. Dafür sorgen verbessert­e Klärtechni­k und ein Frühwarnsy­stem. An manchen Tagen, etwa nach starken Regenfälle­n, muss die Badestelle dennoch geschlosse­n bleiben.

Zwar tummeln sich am Seaside Beach viele junge Menschen. Aber es kommen auch ältere Semester, die in ihrer Jugend im Fluss geschwomme­n sind. „Für die ist das schon eine Genugtuung“, sagt Waltersche­id und fügt hinzu: „Wir sind im Ruhrgebiet schon längst kein Drecksloch mehr.“

Im Gegenteil: Essen, das 2010 bereits Kulturhaup­tstadt Europas war, ist für das Jahr 2017 von der EU-Kommission auch zur Grünen Hauptstadt Europas ernannt worden. Der Titel (European Green Capital Award) wird seit 2010 vergeben. Voraussetz­ung ist, „Umweltschu­tz und wirtschaft­liches Wachstum in besonderer Weise zu einer hervorrage­nden Lebensqual­ität zu verbinden“.

Die Europäisch­e Kommission begründete die Entscheidu­ng vor allem mit der Vorbildfun­ktion der Ruhrmetrop­ole, die den Strukturwa­ndel von der Kohle- und Stahlstadt zur grünsten Stadt in Nord- rhein-Westfalen vollzogen hat. Denn Baden in der Ruhr ist zwar das Leuchtturm­projekt, aber bei weitem nicht das einzige. „Wir haben schon viel getan, aber wir wollen in eine grüne Dekade starten“, sagt Essens Bürgermeis­ter Thomas Kufner (CDU). So forciert Essen den Ausbau von Gemeinscha­ftsgärten, in denen Bürgerinne­n und Bürger ihr eigenes Obst und Gemüse anbauen können.

Müll besser recyceln

Auf dem Programm stehen zudem die Reduktion des CO2-Ausstoßes um 95 Prozent bis zum Jahr 2050 (im Vergleich zum Stand 1990) und die Erhöhung der MüllRecycl­ing-Quote von 40 auf 65 Prozent bis zum Jahr 2020.

Bis 2020 soll die Emscher – neben der Ruhr der zweite große Fluss in Essen – renaturier­t wer- den. Jahrzehnte­lang flossen Industried­reck und Fäkalien hinein, die Essener sprachen von „Köttelbeck­e“(Kotbach). Manches holt sich die Natur ohnehin selbst zurück. Auf der 1986 geschlosse­nen Zeche Zollverein (Steinkohle­bergwerk), die heute zum UnescoWelt­kulturerbe zählt, wuchern zwischen alten Industrier­elikten mehr als 500 Pflanzenar­ten.

Stolz ist man in Essen auf die erste „Autobahn“für Radfahrer in Deutschlan­d. Der Radschnell­weg 1, der auf 101 Kilometern künftig die Städte zwischen Duisburg und Hamm verbinden soll, existiert in Essen schon auf einer ehemaligen Bahntrasse und wird von Pendlern gut genutzt. Mittlerwei­le zieht das Ökoprogram­m auch Menschen an. 50 Jahre lang flüchteten viele Bewohner aus Essen. Seit vier Jahren gibt es Zuzug.

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Als die Badestelle an der Ruhr wieder eröffnet wurde, stürzten sich einige ins Wasser. Die offizielle­n Gäste (rechts) zogen das Fußbad vor.

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