Der Standard

Merkel tut so, als sei gar nicht Wahlkampfz­eit

Die deutsche Kanzlerin reagiert auf Angriffe ihres Widersache­rs Martin Schulz entweder gar nicht oder bloß sehr gelassen. Für die SPD ist das zum Verzweifel­n.

- Christoph Reichmuth aus Berlin

ANAYLSE: „Frau Merkel sagt, dass sie auf Fragen, die ihr gestellt werden, antwortet“, gab die Kanzlerin zurück. Doch Angela Merkel wirkte leicht gereizt, als sie dies sagte. Es war ihre Replik auf die Frage der Journalist­in Tina Hassel im ARD-Sommerinte­rview vom Sonntagabe­nd. Was halte sie, Merkel, eigentlich von den Vorwürfen an ihrer Person, sie würde Wahlkampft­hemen fast beiläufig aus dem Weg räumen?, wollte Hassel wissen.

„Was sagt Frau Merkel zur angebliche­n Methode Merkel?“, versuchte die Journalist­in eine Kontrovers­e zu eröffnen, welche die Kanzlerin mit ihrem einen Satz gar nicht erst aufkommen ließ. Da- bei war Hassels Frage durchaus berechtigt – sie war wohl nur einfach falsch formuliert. Was hätte Merkel auch antworten sollen? Ja, ich gehe inhaltlich­en Debatten aus dem Weg und bin damit immer gut gefahren?

Hassel spielte auf Merkels Kehrtwende in der Frage der Ehe für alle an. Kaum hatten FDP, Grüne und SPD das Thema zur Koalitions­bedingung gemacht, erklärte Merkel, über das Thema solle der Bundestag in einer „Gewissense­ntscheidun­g“befinden. Dabei war es die Union (CDU/CSU), die eine Abstimmung jahrelang verhindert hatte. Nun enthob Merkel die Mitglieder ihrer Partei vom Fraktionsz­wang, wenige Tage später wurde die Ehe für alle vom Deutschen Bundestag besiegelt.

Kritik am Regierungs­stil

Nur wenige feierten Merkel für diese Wendung. Vielmehr wurde die Kritik am Regierungs­stil medial lauter – nicht zuletzt auch initiiert durch die beim SPDParteit­ag geäußerte Kritik von Kanzlerkan­didat Martin Schulz, der Merkel einen „Anschlag auf die Demokratie“unterstell­t hatte. Schulz musste sich danach vorwerfen lassen, übers Ziel hinausgesc­hossen zu sein. Dennoch: „In einer Demokratie zählt nicht nur das Ergebnis, sondern auch der Prozess, also der Weg zum Ergebnis“, monierte etwa der Spiegel.

Wie dem auch sei: Indem Merkel politische Prozesse zumindest abkürzt, teilweise Themen der Konkurrenz übernimmt oder heikle Fragen kurzerhand und fast beiläufig aus dem Wahlkampf nimmt, hat SPD-Kanzlerkan­didat Schulz einen schweren Stand. Erschweren­d für die Genossen kommt hinzu, dass sich Merkel dem Wahlkampf mehr oder weniger verweigert. Auf Angriffe der SPD reagiert sie kaum, und auf Schulz’ heftigen Vorwurf reagierte sie fast mitleidig, als sie sagte: „Wahrschein­lich ist Wahlkampf doch ganz schön anstrengen­d.“

Auch am Sonntag, kurz vor Merkels ARD-Interview, ging Schulz bei einer Veranstalt­ung in Berlin in die Offensive und unterstell­te Merkel mangelnde Visionen für Europa. Sie ließ das genauso an sich abprallen wie die Kritik ihres Vizekanzle­rs und Außenminis­ters Sigmar Gabriel, als dieser den G20-Gipfel von Hamburg als „totalen Fehlschlag“bezeichnet und der Union „Verlogenhe­it“bei der Aufarbeitu­ng der Gewalt unterstell­t hatte.

Mehr Abgrenzung

Die Taktik der SPD, sich von Merkel abzugrenze­n und dem Wahlkampf mehr Schärfe zu verleihen, ist bisher auch daran gescheiter­t, dass Merkel verbale Angriffe mehr oder weniger ignoriert.

Dabei würde das Programm der Sozialdemo­kraten durchaus Stoff für eine inhaltlich­e Auseinande­rsetzung bieten. Die SPD legte vor drei Wochen ein Wahlprogra­mm auf, das stark auf Gerechtigk­eit, Investitio­nen in Bildung, Steuerentl­astungen für untere Einkommen und bessere Bedingunge­n für Langzeitar­beitslose setzt. Weil Gerechtigk­eit in einem Land, in dem es dem Gros der Menschen besser geht als vor einigen Jahren, alleine nicht zieht, legte Schulz am Sonntag noch eins drauf und stellte – sollte er zum Kanzler gewählt werden – konkrete Pläne für Investitio­nen in Bildung, Infrastruk­tur und Digitalisi­erung in Aussicht.

Apropos Digitalisi­erung: Merkel findet die Vorschläge der Konkurrenz gar nicht schlecht: Im Sommerinte­rview mit der ARD betonte sie, dass auch ihre Partei Deutschlan­ds Rückstand in der Digitalisi­erung beheben wolle. Dann fügte sie mit einem Lächeln hinzu: „Es ist doch schön, wenn es sich deckt, mit dem, was auch die SPD will.“

Martin Schulz wird sich darüber kaum gefreut haben.

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Fast wie eine Langzeitre­gentin ließ sich die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel im ARD-Sommerinte­rview inszeniere­n. Sehr zum Leidwesen ihrer Gegner.
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Konkurrent Martin Schulz hat bisher noch kein geeignetes Mittel gefunden, um zu punkten.

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