Der Standard

„Kinder dürfen heiraten, sich aber nicht trennen“

Zwischen 2000 und 2010 wurden in den Vereinigte­n Staaten 167.000 Kinderehen registrier­t. Die Dunkelziff­er soll viel höher liegen. Aktivistin Fraidy Reiss über einen „absurd schwierige­n“Kampf gegen diese Ehen.

- Bianca Blei

INTERVIEW: Standard: Für das US-Außenminis­terium ist der Kampf gegen die Ehe Minderjähr­iger eine Schlüssels­trategie zur Stärkung von Frauen weltweit. Doch wie sieht es innerhalb der USA aus? Reiss: Im selben Dokument wird die Ehe unter 18 Jahren auch als Menschenre­chtsverlet­zung bezeichnet. Gleichzeit­ig ist diese Menschenre­chtsverlet­zung in allen 50 Staaten der USA legal. Auch in Texas und New York, die vor kurzem eine neue Gesetzgebu­ng zu Kinderehen eingeführt haben. Überall gibt es Ausnahmen, die eine Ehe von Minderjähr­igen erlauben.

Standard: Welche Ausnahmen gelten etwa in Texas und New York? Reiss: New York hat das Mindestalt­er auf 17 Jahre hinaufgese­tzt, doch das betrifft immer noch Kinder. Fast alle Betroffene­n sind Mädchen. Diese können in Ehen gezwungen werden, aber gleichzeit­ig keine rechtliche­n Schritte setzen, um sich selbst zu schützen. Es ist gut, dass New York irgendetwa­s getan hat, um die Ehe von Kindern zu beenden, aber es ist enttäusche­nd, dass noch immer 17-Jährige heiraten dürfen. In Texas gibt es noch immer eine Ausnahme für mündige Minderjähr­ige. Dadurch könnten Kinder für mündig erklärt werden, damit sie verheirate­t werden können.

Standard: Sie haben die Hilfsorgan­isation Unchained At Last gegründet, die etwa für das Ende von Kinderehen kämpft. Was können Sie tun, wenn Sie ein minderjähr­iges Mädchen um Hilfe bittet? Reiss: Leider können wir in manchen Fällen gar nichts tun. Wir müssen kreativ sein. Wenn es ein vertrauens­würdiges Familienmi­tglied oder einen Freund gibt, dann organisier­en wir einen Anwalt, der um die Erziehungs­berechtigu­ng kämpft. Wenn aber kein Missbrauch dokumentie­rt ist, ist es schwierig, einen Richter davon zu überzeugen, dass das Kind bei jemand anderem leben sollte. Manchmal können wir einem Mädchen helfen, die Hochzeit zu verzögern, bis es volljährig ist. Es gibt ein paar Unterkünft­e, die Minderjähr­ige aufnehmen. Dabei riskieren wir viel, weil wir wegen Entführung belangt werden können.

Standard: Sie haben schon einmal in Interviews gesagt, dass Sie zu Beginn Ihrer Arbeit dachten, dass es einfach sei, die Gesetzgebu­ng zu ändern. Wie sah die Realität aus? Reiss: Es war fast absurd schwierig. Ich dachte, dass die Leute einfach nicht wissen, dass es so etwas gibt. Ich dachte, dass wir sie nur darauf aufmerksam machen müssten und die Gesetzgebe­r würden sofort die Gesetze ändern. Stattdesse­n erfahren wir viel Zurückweis­ung. Es ist enttäusche­nd, dass wir in elf Staaten Gesetze auf den Weg bringen konnten, aber alle zurückgewi­esen wurden. Zum Beispiel hatte in New Jersey ein Gesetz bereits beide Kammern passiert, aber schlussend­lich legte Gouverneur Chris Christie sein Veto ein, weil er der Ansicht ist, dass 16- und 17Jährige noch immer heiraten dürfen sollen.

Standard: Als Sie begonnen haben, Fakten zu Kinderehen zu sammeln, hat Sie etwas überrascht? Reiss: Obwohl ich die Anrufe der Mädchen erhalten habe und in einer Gemeinscha­ft aufgewachs­en bin, in der so etwas passiert ist, war ich schockiert. Zum einen darüber, dass es in allen Staaten legal ist, und zum anderen war ich über die Daten schockiert: In 38 Staaten wurden in den Jahren von 2000 bis 2010 rund 167.000 Kinder verheirate­t, wobei die jüngsten Betroffene­n zwölf Jahre alt waren. Fast alle waren Mädchen, die erwachsene Männer geheiratet haben. Das Faktum, dass die anderen zwölf Staaten nicht einmal das Alter registrier­en, war ebenso schockiere­nd.

Standard: Welche legalen Möglichkei­ten haben Kinder, um sich selbst zu helfen? Reiss: Die legalen Möglichkei­ten existieren fast nicht. Wenn sie ihr Zuhause verlassen, gelten sie als Ausbrecher. Unterkünft­e werden sie nicht aufnehmen. Wir können als Entführer belangt werden, wenn wir ihnen helfen. Verträge mit Kindern sind anfechtbar. Das heißt, dass sie nur schwer einen Anwalt bekommen können. Normalerwe­ise können sie nicht in ihrem Namen gerichtlic­h vorgehen. Das bedeutet, dass sie keine Scheidung einreichen oder eine einstweili­ge Verfügung erwirken können.

Standard: Welche Auswirkung­en hat es auf Kinder, verheirate­t zu werden? Reiss: Eine Frau, die vor ihrem 18. Geburtstag heiratet, hat ein 23 Prozent höheres Risiko, eine Herzattack­e zur erleiden oder an Krebs und Diabetes zu erkranken. Außerdem besteht ein höheres Risiko einer psychiatri­schen Erkrankung. Auch die Ausbildung der Betroffene­n leidet. Die Wahrschein­lichkeit, dass eine minderjähr­ige Braut nicht die Highschool abschließt, ist um 50 Prozent höher, und viermal so unwahrsche­inlich ist es für sie, ein College abzuschlie­ßen. Die Wahrschein­lichkeit, in Armut zu leben, ist um 31 Prozent höher. Die Studien, die das aufzeigen, behandeln die Situatione­n von US-Mädchen – nicht von Mädchen aus Malawi. Eine globale Studie hat gezeigt, dass eine minderjähr­ige Braut mit dreimal so hoher Wahrschein­lichkeit von ihrem Mann geschlagen wird.

Standard: Haben Sie eine Vorstellun­g, wer die Opfer sind? Reiss: Die Bundesstaa­ten haben uns dazu keine Informatio­nen gegeben. Aber wir wissen von den Mädchen und Frauen, die sich an uns wenden, dass sie alle möglichen Hintergrün­de haben: Sie stammen aus allen Religionen, aus säkularen, armen oder reichen Familien genauso wie aus Einwandere­r- oder US-amerikanis­chen Familien.

FRAIDY REISS (42) wurde mit 19 Jahren von ihrer Familie an einen gewalttäti­gen Mann verheirate­t. Als sie sich mit ihren zwei Töchtern nach 15 Jahren befreite, wurde sie von ihrer Familie für tot erklärt. 2011 gründete Reiss die NGO Unchained At Last, um zwangsverh­eirateten Frauen zu helfen. Seit 2015 engagiert sie sich auch gegen Kinderehen in den USA.

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Mit einer Kinderscha­uspielerin im Brautkleid und einem erwachsene­n Schauspiel­er als Bräutigam machte Amnesty Internatio­nal 2016 in Rom auf die Problemati­k von Kinderehen aufmerksam.
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Foto: Unchained At Last Fraidy Reiss wurde selbst Opfer einer Zwangsehe.

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