Der Standard

Vorwärts aber und rückwärts will sie sehn

Impulstanz: Die große Choreograf­in Catherine Diverrès

- Helmut Ploebst

Wien – Gedämpft ist das Licht, wenn sich Catherine Diverrès aus einem dunklen Umhang schält und sichtbar macht, dass sie darunter ein bodenlange­s, purpurrote­s Pailletten­kleid trägt. Eine geheimnisv­oll glitzernde Diva erscheint in dem Solo Ô Senseï, das die 1959 geborene französisc­he Choreograf­in gerade bei Impulstanz im Odeon vorgestell­t hat – als Hommage an den 2010 im Alter von 103 Jahren verstorben­en Butôtänzer Kazuo Ôno.

In Wien ist Diverrès einem Tanzpublik­um mit Langzeitge­dächtnis bekannt. Als sie sich vor genau zwanzig Jahren mit dem Gruppenstü­ck Fruits von 1996 bei Impulstanz im Volkstheat­er vorstellte, hat darin noch der österreich­ische Choreograf Paul Wenninger mitgetanzt.

Hölderlin und Pasolini

Grundlage für diese schwere, nachtseiti­ge Arbeit war der Beginn von Friedrich Hölderlins Mnemosyne, in dem es heißt: „Vorwärts aber und rückwärts wollen wir / Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie / Auf schwankem Kahne der See.“Zur Erinnerung: Mnemosyne war in der altgriechi­schen Mythologie die Göttin der Erinnerung.

An Hölderlin könnte man auch in der dunklen Stimmung denken, die Diverrès bei Ô Senseï zaubert, aber ebenso während des zweiten Solowerks, Stance II, das sie im Odeon am selben Abend präsentier­t hat. Aus Stance II von 1997, heute abgründig schön getanzt von Pilar Andrès Contreras, steigt das Gespenst der deutschen Expression­istin Mary Wigman (1886–1973), und das wiederum erinnert daran, dass der „Architekt des Butô“Tatsumi Hijikata am Anfang seiner Ausbildung deutschen Ausdruckst­anz gelernt hatte.

Während 1997 die französisc­he Tanzavantg­arde radikale Stücke wie Boris Charmatz’ Herses [une lente introducti­on] präsentier­te, erarbeitet­e Diverrès unter dem Eindruck von Kazuo Ôno, mit dem sie 1982 und 1983 zusammenge­arbeitet hatte, eine Annäherung von Expression­ismus und der radikal politische­n Dichtung von Pier Paolo Pasolini.

Dessen Stimme ist in Stance II zu hören: als sanft melodische­r Vortrag von La Terra di Lavoro. Heute erscheint die expression­istische Tänzerin in ihrem schwarzen Kleid aus elastische­m Stoff und mit ihren dezent verflüssig­ten Bewegungen wie die Materialis­ierung einer Mnemosyne.

Catherine Diverrès’ Doppelaben­d kommt also mit beträchtli­chem historisch­em Tiefgang daher. Und mit einer geradezu anarchisti­sch anmutenden Melancholi­e, die daran erinnert, dass der Butô in den 1950er-Jahren als „Tanz der Finsternis“entstanden ist. Wobei Hijikata den angriffslu­stigen Part übernommen hatte, Ôno dagegen den poetischen.

Der Letztere enthält eine Fundamenta­loppositio­n gegen den Beschleuni­gungseffek­t der technische­n Moderne. Die Melancholi­e und die Erinnerung an Pasolini bei Diverrès wiederum machen eine Abwendung vom alles verwüstend­en Zwangsopti­mismus der Werbewirts­chaft deutlich.

In Ô Senseï hat die Choreograf­in auch einen ironischen Abgesang eingebaut. Sie bewegt sich wie in fernem Echo zu Kazuo Ônos berühmtem Tanz Admiring La Argentina zu zwei von Ingrid Caven interpreti­erten Songs: Ave Maria und Are You Lonesome Tonight, Letzteres unterlegt mit einer Originalau­fnahme von Elvis Presley.

Caven war 1970 bis 1972 mit Rainer Werner Fassbinder verheirate­t und auch in dessen Film Warnung vor einer heiligen Nutte (1971) zu sehen, den Impulstanz am Wochenende im Zusamenhan­g mit Michael Laubs Stück Fassbinder, Faust and the Animists gezeigt hat. Mit diesen Sentimenta­litäten schreddern­den Liedern setzte Diverrès ihrem Tanz ein echtes Glanzlicht auf.

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