Der Standard

Umkämpfte Gewaltente­ilung

Polens Regierung blendet wesentlich­e Fragen der Demokratie aus

- Gerald Schubert

Mehr als ein Vierteljah­rhundert nach den Freiheitsr­evolutione­n in Mittel- und Osteuropa schlittert Polen vor unseren Augen in eine demokratie­politische Krise, in der nichts weniger zur Dispositio­n steht als die Grundfeste­n des Rechtsstaa­ts. Allgemein formuliert lässt sich die Debatte etwa so zusammenfa­ssen: Die nationalko­nservative Regierungs­partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) beruft sich auf ihre absolute Mehrheit im Parlament und leitet daraus die Vollmacht ab, sich mit neuen Gesetzen Durchgriff­srecht auf die Justiz zu schaffen. Regierungs­kritiker wiederum warnen vor dem Überschrei­ten einer roten Linie und berufen sich auf die Gewaltente­ilung, die einem Rechtsstaa­t zugrunde liegen müsse.

Das Recht der PiS, im Namen „des Volkes“so weitreiche­nde Entscheidu­ngen wie über die Umfärbung des Verfassung­sgerichts oder die Politisier­ung von Landesjust­izrat und Höchstgeri­cht zu treffen, wird aber oft auch mit dem Hinweis auf das Wahlergebn­is von 2015 infrage gestellt. 37,6 Prozent der Stimmen bekam die Partei von Jarosław Kaczyński damals bei einer Wahlbeteil­igung von nicht einmal 51 Prozent. Das mache gerade einmal 19 Prozent der Wahlberech­tigten aus, und die seien beileibe nicht „das Volk“, erklärt die Opposition gern.

So verlockend dieses Argument angesichts des furiosen Machtwille­ns der PiS auch sein mag: Letztlich spielt es nur der Regierung in die Hände, die dann verlässlic­h ihrerseits die Opposition beschuldig­t, die demokratis­chen Spielregel­n nicht zu akzeptiere­n. Ähnlich verhält es sich mit Blockaden von Parlaments­sitzungen, an denen sich Opposition­sabgeordne­te innerhalb und Demonstran­ten außerhalb des Sejm ebenfalls bereits versucht haben. ie Debatte muss an einem anderen Punkt ansetzen – auch wenn er nicht Ausgangspu­nkt für kurzfristi­ge Erfolge sein dürfte. Es geht um das grundsätzl­iche Verständni­s dafür, dass in einer Demokratie die Opposition kein notwendige­s Übel, sondern ein notwendige­s Korrektiv ist. Dafür, dass kritische Medien und kritische Kunst eine Gesellscha­ft nicht ins Wanken bringen, sondern einen Diskurs ermögliche­n, der letztlich für stabile Verhältnis­se sorgt. Und dafür, dass eine unabhängig­e Justiz der Regierung eben nicht die Luft zum

DAtmen nimmt, sondern ihre Entscheidu­ngen rechtlich absichert.

Polens Führung ist zu derlei Abstraktio­n in ihrem Machtrausc­h nicht fähig. Es liegt an den Bürgerinne­n und Bürgern selbst, diese Debatte geduldig weiterzufü­hren. Und an der EU, die bereits ein Rechtsstaa­tlichkeits­verfahren gegen ihr Mitglied Polen eingeleite­t hat. Rasche Ergebnisse sind auch hier nicht zu erwarten: Die ungarische Regierung von Viktor Orbán wird verhindern, dass einstimmig­e Beschlüsse gegen Warschau gefällt werden.

Die gute Nachricht: Polen hat eine starke Bürgergese­llschaft mit ausge- prägter Skepsis gegen Machthunge­r. 2019 wird wieder gewählt, bis dahin darf die Debatte über das Wesen der Gewaltente­ilung nicht verstummen. Mit Medien, die sich von der Politik unter Druck gesetzt fühlen, wird dies aber nicht einfacher. Und: Das Oberste Gericht, das bald der Justizmini­ster kontrollie­ren soll, befindet unter anderem über die Gültigkeit von Wahlen. Opposition und EU müssen sehr genau beobachten, ob eine Regierung im Herzen Europas – die Regierung eines Landes, das sich vor 28 Jahren die Freiheit erkämpft hat – 2019 nicht auf eine knallrote Linie zusteuert.

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