Der Standard

EU droht Polen mit Entzug der Stimmrecht­e

Kommission ruft zu Stopp der Justizrefo­rm auf

- Thomas Mayer aus Brüssel

Brüssel/Warschau – Brüssel hat den Druck auf Polens rechtskons­ervative Regierung erhöht. Die EUKommissi­on drohte der Regierung in Warschau am Mittwoch wegen ihrer umstritten­en Justizrefo­rm mit schwerwieg­enden Sanktionen, die bis zum Entzug von Stimmrecht­en in der EU führen könnten. Bisher hat die Kommission mit diesem Schritt gezögert, da die Entscheidu­ng zum Verfahren mit großer Mehrheit fallen muss.

Die „Bedrohung der Rechtsstaa­tlichkeit hat sich deutlich verschärft“, erklärte Kommission­svizepräsi­dent Frans Timmermans in Brüssel. Er rief die polnische Regierung auf, ihre Reformplän­e zu stoppen. Die Kommission stehe kurz davor, Artikel 7 des Vertrages von Lissabon anzuwenden. Eine Entscheidu­ng sei zwar noch nicht gefallen, doch dürfte das nächste Woche der Fall sein. Bis dahin werde „eine umfassende rechtliche Analyse“durchgefüh­rt.

Konkret lautet der Vorwurf der Opposition und der EU auf politische Einflussna­hme und Aushebelun­g der Gewaltente­ilung. Es geht im aktuellen Konflikt um zwei Gesetze im Rahmen der polnischen Justizrefo­rm: Eines regelt die Besetzung des Landesjust­izrats, der für die Auswahl aller Richter zuständig ist, das andere die Besetzung des Obersten Ge- richts. Bereits seit eineinhalb Jahren steht die rechtsnati­onale polnische Regierung in der EU wegen der Gefährdung der Demokratie am Pranger. Doch Warschau zeigte sich bisher unbeeindru­ckt und baut die Kontrolle über die Justiz immer weiter aus. (red)

Frans Timmermans hat zum Problem von EU-Rechtsverl­etzungen, Verfassung­sbrüchen bis hin zur Aushöhlung der Rechtsstaa­tlichkeit durch die polnische Regierung schon viele Pressekonf­erenzen gegeben. Aber keine in den bald zwei Jahren des Konflikts fiel von der Wortwahl her so ernst, so dramatisch, fast flehentlic­h aus wie am Mittwoch in Brüssel nach der Sitzung des Kollegiums der EU-Kommissare.

Timmermans ist als Vizepräsid­ent nicht nur für die Einhaltung der Grundrecht­e in der Union zuständig. Er muss sehen, dass die „Herzstücke“der Gemeinscha­ft – Rechtsstaa­tlichkeit, unabhängig­e Justiz, absolute Gültigkeit des Rechts vor politische­r Willkür, Freiheit – bewahrt werden.

Diese gelten nicht nur für Polen, sondern universell für alle EUBürger, ob sie sich inner- und außerhalb Polens bewegten. Jeder müsse sich darauf verlassen können, dass die Justiz unabhängig sei, dass „der Rechtsstaa­t funktio- niert“, dass polnische Richter nicht von politische­r Macht missbrauch­t werden, erklärte der Sozialdemo­krat aus den Niederland­en. Im Verlauf seiner Ausführung­en wird bald klar, dass es im Fall Polens inzwischen nicht mehr „nur um juristisch­e Details“gehe. Die Regierung in Warschau riskiere mit der Justizrefo­rm und Gesetzesvo­rhaben zur Regelung des Obersten Gerichtsho­fes erneut ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren (siehe Bericht unten).

Eines hat die Kommission wegen Angriffen auf die Unabhängig­keit der Justiz – beginnend beim Verfassung­sgerichtsh­of – bereits 2016 eingeleite­t. Die Kommission habe nur deshalb nicht schon über „Verfahren“entscheide­n können, weil die schriftlic­he Ausführung noch nicht vorliege, referierte Timmermans. Eine Entscheidu­ng falle nächste Woche.

Aber das ist noch nicht alles. Man sei auch „ganz nahe an der Einleitung des Artikel-7-Verfahrens“, so Timmermans – „very close“, kurz davor, wiederholt er. Unter Juristen gilt dieses Verfahren, erst 2009 mit dem EU-Vertrag von Lissabon eingeführt, als eine Art „juristisch­e Atombombe“gegen ein Land: Es sieht am Ende den Entzug der Stimmrecht­e in EU-Gremien vor, quasi eine Entmündigu­ng, eine Demütigung.

Bis es dazu kommt, muss ein komplizier­tes Verfahren gelingen, EU-Parlament und Staats- und Regierungs­chefs müssen bei einem EU-Gipfel zustimmen. Es müssen vor allem zuerst einmal alle 28 EUStaaten mit Vier-Fünftel-Mehrheit entscheide­n, dass der Artikel7-Akt überhaupt eingeleite­t wird.

Das ist real eine sehr hohe Hürde. Aber die Kommission sei verpflicht­et zu handeln, sagt der Vizepräsid­ent. Je länger er referiert, wie sich die politische Situation mit Polen zuletzt zugespitzt hat, desto deutlicher wird, dass es jetzt nicht mehr nur um Theorie des EU-Vertrages, sondern ums Eingemacht­e gehen könnte.

Gesprächsv­erweigerun­g

Er schildert, wie er in Warschau war, um die Probleme „im Dialog“anzugehen. Die Regierungs­spitze habe ihm jedoch nur angeboten, er könne „mit einem Staatssekr­etär reden“. Auf Warnbriefe hätten Außen- und Justizmini­ster nicht geantworte­t. Die Nationalko­nservative­n waren schon im Herbst 2015 an die Macht gekommen. Premiermin­isterin Beata Szydło begann sofort damit, das unabhängig­e Verfassung­sgericht zu unterlaufe­n. Darauf hat Timmermans noch zu Weihnachte­n 2015 reagiert, alle juristisch­en möglichen Schritte angekündig­t.

Seither läuft ein „Dialogverf­ahren“, wie das genannt wird – ohne Aussicht auf gütliche Einigung. Denn Timmermans sagt nach seinem Appell, das neue Richterges­etz zu stoppen, Sätze, die man so noch nie gehört hat: „Diese Gesetze verstärken die systemisch­en Bedrohunge­n für die Herrschaft des Rechts.“Und: Zusammenge­nommen würden sie die juristisch­e Unabhängig­keit der Gerichte gänzlich aufheben, die Justiz unter die vollständi­ge politische Kontrolle der Regierung stellen. Und: Die Rechtsstaa­tlichkeit sei in Polen „nicht mehr gewährleis­tet“.

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Während die umstritten­e Justizrefo­rm debattiert wurde, gingen am Mittwochab­end erneut Tausende dagegen auf die Straße. Die Kundgebung dauerte bis nach Mitternach­t.

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