Ruhm statt Risiko
Eine Studie bescheinigt internationalen Hilfsorganisationen zu wenig Präsenz in Krisengebieten
Einer Studie zufolge gibt es zu wenige internationale Hilfsorganisationen in Krisengebieten. Diese delegieren ihr Risiko an lokale NGOs.
New York / Wien – Als die Luftangriffe der saudisch geführten Koalition im Jemen immer intensiver wurden, zogen die Vereinten Nationen ihr Personal aus dem Bürgerkriegsland ab. Ihnen folgten weitere internationale Hilfsorganisationen. Das war im Jahr 2015 und für Pete Buth der Moment, in dem ihm klar wurde, dass oft Sicherheitsexperten entscheiden.
Risiken als Teil der Arbeit
Der ehemalige Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen will im Gespräch mit dem STANDARD nicht über die Entscheidungen von Sicherheitsbeauftragten oder Verantwortlichen von Hilfsorganisationen urteilen. Jeder müsse seine eigene Entscheidung treffen, doch „es war ein Problem, dass nur so wenige Leute im Jemen geblieben sind“, sagt Buth: „Risiken auf sich zu nehmen ist Teil der humanitären Arbeit.“Darüber reflektierte er in einem Bericht für MSF, der sich damit befasst, wie viel Risiken humanitäre Akteure auf sich nehmen können, um mehr Menschen zu erreichen.
Mehr. Das ist die Antwort einer kürzlich veröffentlichten Studie im Auftrag der UN-Abteilung für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) und dem Norwegian Refugee Council. Präsenz & Lage ist der übersetzte Titel des Reports, laut dem zu we- nige Hilfsorganisationen in den Regionen sind, wo die meisten Menschen Hilfe brauchen und umgekehrt.
„Große Hilfsorganisationen halten sich eher von der Front entfernt“, sagt Ashley Jackson, eine der Studienautorinnen, zum STANDARD. Vor allem seit dem Jahr 2003 – als das UN-Hauptquartier in Bagdad angegriffen wurde – seien Hilfsorganisationen vorsichtiger, sagt sie. „Die meisten NGOs verstecken sich aber immer noch hinter Stacheldraht“, sagt Jackson: „Das muss nicht sein.“Denn lokale Hilfsorganisationen würden beweisen, dass man auch in gefährlichen Gebieten noch helfen und gleichzeitig seine Mitarbeiter schützen kann.
Ein Trend, den die Studienautoren beobachtet haben, war die zunehmende Weitergabe von humanitärem Engagement an lo- kale Hilfsorganisationen: „Lokale NGOs werden als Subunternehmer engagiert, wo es für große Organisationen oder die Vereinten Nationen zu gefährlich ist“, sagt Jackson. Dabei würden Spendengelder verloren gehen, da jede Ebene – von der internationalen bis zur lokalen NGO – einen Betrag einbehalte, sagt die Autorin.
Da die großen Organisationen eben nicht vor Ort seien, könnten die kleinen NGOs fast nicht kontrolliert werden. Außerdem würden die lokalen Mitarbeiter nur in wenigen Fällen die Sicherheitsschulungen der internationalen Helfer erhalten. „Die kleinen Organisationen erhalten das Risiko, die großen Organisationen den Ruhm“, fasst Jackson zusammen. Die Zahlen belegen, dass weltweit 2015 siebenmal so viele lokale wie internationale Helfer Opfer von Angriffen wurden.
Niemand würde leichtsinnig Personal aus Krisenregionen abziehen, sagt Isabelle Misic, die Leiterin der Notfallvorsorgeabteilung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR: „Es ist ein Balanceakt zwischen der Sicherheit der Mitarbeiter und dem Risiko, das wir für die Menschen in Not nehmen wollen.“In den vergangenen Jahren habe sich vor allem der Informationsaustausch zwischen den UN-Einrichtungen und den Hilfsorganisationen verbessert. In Sachen Sicherheit gebe es beim UNHCR regelmäßige Mitarbeiterschulungen.
Hürden durch Regierungen
Für Iain Levine, Programmdirektor bei Human Rights Watch, gibt es einen triftigen Grund, wieso Hilfsorganisationen vorsichtiger geworden sind: „Es sind Leute gestorben, und die erste Verantwortung jeder Organisation ist die Sicherheit ihrer Mitarbeiter.“Für ihn sind es oft die Regierungen, die Hilfseinsätze schwierig gestalten: so etwa in Syrien, wo Hilfskonvois die Einreise verweigert wurde, oder im Südsudan, wo die Regierung die Visa für Helfer von 1000 auf 10.000 US-Dollar anhob.
„Außerdem beeinflussen gezielte Budgetkürzungen von Regierungen, wo NGOs tätig sind“, sagt Levine: „Aber es stimmt. Hilfsorganisationen sind flexibler als der Apparat der Vereinten Nationen.“