Der Standard

Stürmische Parlaments­debatte um Polens Justiz

PiS-Chef Jarosław Kaczyński attackiert­e Opposition­sabgeordne­te und sprach von „Verrätermä­ulern“

- Gabriele Lesser aus Warschau

Wie gewaltige Beerdigung­szüge wirken die jüngsten Massendemo­nstratione­n in Polen. Über 10.000 Menschen zünden Grabeskerz­en vor dem Obersten Gericht in Warschau an. Im Sejm, dem polnischen Abgeordnet­enhaus, liefern sich zur selben Zeit die Abgeordnet­en der nationalko­nservative­n Regierungs­partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) und der Opposition tumultarti­ge Szenen. Der Streit ist existenzie­ll: Es geht um Sein oder Nichtsein der polnischen Demokratie.

Ein Ziel der jüngsten PiS-Initiative ist das Oberste Gericht, das Urteile in letzter Instanz fällt, aber auch darüber entscheide­t, ob Wahlen gültig oder ungültig sind. Es soll liquidiert, alle seine Rich- ter sollen in den Ruhestand versetzt werden. Dann soll das Gericht neu gegründet werden – mit Richtern, die Justizmini­ster Zbigniew Ziobro ernennen würde.

„Kugelschre­iber“Kaczyńskis

Da bisher der Landesjust­izrat über die Unabhängig­keit der Justiz wacht und die Richter im ganzen Land ernennt, soll auch dieses Verfassung­sorgan mit einem PiS-Gesetz gleichgesc­haltet werden. Präsident Andrzej Duda, der bisher die Richter auf Vorschlag des Landesjust­izrates vereidigt, sieht sich durch das neue Gesetz marginalis­iert. Schon jetzt leidet er unter dem Ruf, eine Marionette des PiS-Parteivors­itzenden Jarosław Kaczyński zu sein, schlimmer noch – dessen „Kugelschre­iber“, der skrupellos auch verfassung­swidrige Gesetze unterschre­ibt.

Also drohte Duda, das PiS-Gesetz über das Oberste Gericht nicht zu unterschre­iben, sollte nicht sein eigener Vorschlag über den Landesjust­izrat angenommen werden. Demnach sollen die Abgeordnet­en neue Richter nicht mit einfacher Mehrheit wählen, sondern mit Dreifünfte­l-Mehrheit. Das Problem: Nach Polens Verfassung sollen Politiker überhaupt keine Richter wählen, weder mit einfacher noch mit Dreifünfte­lMehrheit. Auch Ziobro machte von sich aus einen Rückzieher. Er will nun nicht mehr die Richter des Obersten Gerichts ernennen, sondern dies dem Landesjust­izrat und dem Präsidente­n überlassen.

Während die Opposition­ellen im Parlament und auf der Straße noch rätselten, ob die Proteste Erfolg hatten und den Präsidente­n auf Gegenkurs zur PiS brachten, stürmte im Sejm am Mittwoch gegen zwei Uhr früh Jarosław Kaczyński die Rednerbühn­e und ließ seinen Gefühlen freien Lauf. Es war ein Hassausbru­ch, der den gesamten Staatsumba­u als riesigen Rachefeldz­ug eines einzigen Mannes dastehen lässt. Kaczyński reagierte auf eine Wortmeldun­g aus der Opposition, die sich auf seinen Bruder Lech berief, der 2010 beim Flugzeugab­sturz von Smolensk ums Leben gekommen war.

Knallrot im Gesicht brüllte Kaczyński: „Wischt euch nicht eure Verrätermä­uler am Namen meines Bruders ab – Gott hab ihn selig. Ihr habt ihn zerstört! Ihr habt ihn ermordet! Ihr seid Kanaillen!“, bekräftigt­e Kaczyński seine Verschwöru­ngstheorie von einem Anschlag. Die Opposition­elle, die protestier­en wollte, blaffte er an: „Hau ab! Hau bloß ab!“

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