Der Standard

Digitalisi­erung: Diskurs und Naivität

In der Debatte um die Digitalisi­erung aller Lebensbere­iche gehen viele davon aus, dass die Menschen Krone der Schöpfung bleiben. Aber ist dem tatsächlic­h so? Oder sollten wir auf neuen Ebenen denken? Einige Anmerkunge­n.

- Paul Reinbacher

Die sogenannte Digitalisi­erung mag begrüßt oder bedauert werden – abzulesen beispielsw­eise an der von Konrad Paul Liessmann (im Interview „Wir haben immer weniger im Kopf“) hier im STANDARD angestoßen­en jüngsten Debatte – aufzuhalte­n ist sie kaum, nicht einmal mehr an den Schulen hierzuland­e. Und das, obwohl diese üblicherwe­ise als Teil eines sehr traditions­bewussten (böse Zungen behaupten: eines sehr trägen) Systems gelten.

Die Einbettung des Bildungssy­stems in die Gesellscha­ft sowie dessen Verknüpfun­g mit zahlreiche­n gesellscha­ftlichen Bereichen, allen voran der Wirtschaft, tragen dazu bei, dass Schulen und Schulpolit­ik unter Druck geraten, (mehr oder weniger motiviert) auf soziale und technologi­sche Entwicklun­gen zu reagieren. Damit folgen sie nicht zuletzt dem aktuellen Credo der „employabil­ity“durch die Vermittlun­g „digitaler Kompetenze­n“.

So halten immer wieder neue Technologi­en Einzug in den Klassenzim­mern: Euphorisch begrüßt von „innovators“und „early adopters“, die den Wandel per se als erstrebens­wert beschwören und denen in der Regel alles viel zu langsam geht; gleichzeit­ig werden Neuerungen vehement abgelehnt von den „laggards“, die sich dagegen wehren und bestehende Bastionen mit allen möglichen Argumenten gegen die (vermeintli­che) Bedrohung durch das Neue verteidige­n. Wenngleich Befürworte­r und Gegner der Digitalisi­erung sich (oft unversöhnl­ich) gegenübers­tehen: Als Faktum wird sie kaum bestritten. Und es ist in der Tat nicht davon auszugehen, dass sie bloß entweder Heilslehre oder Teufelswer­k ist.

Digitale Aufrüstung

Vielmehr ist sie (derzeit noch) von Menschenha­nd erschaffen. Und schon aus diesem Grund sind weder ausschließ­lich positive noch ausschließ­lich negative Folgen zu erwarten. Das heißt natürlich nicht, dass uns ein Para- digmenwech­sel erspart bleibt. Allerdings kann es sein, dass dessen Konturen sich erst im Rückblick abzeichnen – wenn sich der Staub der einstürzen­den analogen Welt ein wenig verzogen hat.

Derzeit aber ist vor allem die Naivität großer Teile der Diskussion überrasche­nd – man wird eher an Science-Fiction erinnert: Einerseits angesichts des verbreitet­en Glaubens an die Steuerbark­eit sozialer und technologi­scher Entwicklun­gen. Anderersei­ts durch die nachvollzi­ehbare Neigung, das Bild des Zukünftige­n in den Kategorien des Vergangene­n (des Mythos) und des Gegenwärti­gen (der Moderne) zu zeichnen.

So sieht zum Beispiel die Forderung eines bewussten Wechsels zwischen analogen und digitalen Welten sowie eines reflektier­ten Umgangs damit nach wie vor den Menschen als Krone der Schöpfung oder zumindest als Herren der Dinge. Und selbst in apokalypti­schen Szenarien besitzen die Übeltäter (auch wenn es nur technologi­sche Systeme sind) menschlich­e Züge wie Geist und Sprache.

Was aber, wenn wir mit dieser Digitalisi­erung die Entstehung einer neuen Ebene der Emergenz (von lebenden, psychische­n und sozialen zu technologi­schen Systemen) vorbereite­n? Das wäre ein qualitativ­er Sprung, der über Biohacking, also die technologi­sche Optimierun­g der menschlich­en Natur, hinausgeht!

Digitale Aufklärung

Während derzeit begrüßt beziehungs­weise bedauert wird, dass technologi­sche Innovation­en (im Klassenzim­mer und anderswo) als Instrument­e nützlich und schädlich sind, geht es vermutlich um mehr als nur um das Auslagern von Informatio­nen und ihrer Verarbeitu­ng an digitale Technologi­en sowie um die daraus folgende (kulturelle) Entleerung des Subjekts und seiner Seele.

Subjekt 2.0

Interessan­ter scheinen Fragen der Verantwort­ung, der Vernunft etc., die vermutlich in einem digitalisi­erten Zeitalter der „Aufklärung 2.0“von anderen Fragen abgelöst werden, und die (uns?) damit letztlich zu einer veränderte­n Vorstellun­g vom vernünftig­en Subjekt beziehungs­weise vom Menschen als dem Maß aller Dinge überhaupt zwingen werden.

Wenn Konrad Paul Liessmann mit seinen Gedanken auch diese Diskussion im Bildungssy­stem angestoßen hat, scheint die damit verbundene Aufregung mehr als gerechtfer­tigt.

PAUL REINBACHER arbeitet zu Fragen des Bildungs- und Qualitätsm­anagements, derzeit an der Pädagogisc­hen Hochschule Oberösterr­eich in Linz.

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Die Oberfläche, die Matrix, die Welt: Das Smartphone ist für viele Menschen das Schlüsselw­erkzeug zur erweiterte­n Wirklichke­it. Dabei ist das erst der Anfang digitalisi­erten Lebens.
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Foto: privat Paul Reinbacher: Eine neue Ebene der Emergenz könnte sich ankündigen.

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