Der Standard

Benjamin Clementine: Soul aus der Gosse

Am Samstag ging in Wiesen das dreitägige Festival Out Of The Woods zu Ende. Die Österreich­premiere von Benjamin Clementine markierte den einsamen Höhepunkt in einem Programm mit u. a. Feist, Sohn, The Foals oder Alt-J.

- Karl Fluch

Wiesen – Der Vergleich mit Nina Simone ist natürlich Quatsch. Simone, die Unberührba­re, hat zu viel erlebt, durchgemac­ht und erschaffen, um sich mit irgendjema­ndem messen zu müssen. Doch allein der Umstand, dass der Vergleich auftaucht, macht neugierig auf Benjamin Clementine. Der Brite trat am Samstag im Rahmen des Festivals Out Of The Woods in Wiesen auf.

Es war nicht der beste Rahmen für die Kunst des Briten. Inmitten der üblichen Festivalmi­schung aus „Hollodarö!“(die Eltern sind nicht dabei!), „Prost!“(selbsterkl­ärend) und „Wo ist die Bühne?“(irgendwie geht’s hier um Musik) wirkte er etwas fehl am Platz. Wobei der Auftritt Clementine­s und das im Vergleich zu Großfestiv­als gewilltere und entspannte­re Publikum doch mehr Menschen in den Bann schlug, als angenommen werden konnte, zumal der 28-Jährige erst ein Album veröffentl­icht hat. Demnächst folgt mit I Tell A Fly das Zweite.

Clementine ist eine Erscheinun­g. Eine Mischung aus Little Richard und Grace Jones – minus des Glamours der beiden. Das schlug sich in einer Bühnengard­erobe aus dem Baumarkt nieder. Clementine und seine drei Instrument­alisten waren im Blaumann auf der Bühne, der fünfköpfig­e Damenchor trug dasselbe in Weiß. Als Anflug von Exzentrik muss Clementine­s turmhohe Frisur gewertet werden sowie ein Rüschenumh­ang, wie man ihn aus liebevolle­n gepflegten Wirtshaust­oiletten kennt. So lehnte er an einem Barhocker viel zu hoch über seinem Flügel.

Seine Art, aus der Vogelpersp­ektive Klavier zu spielen, beschreibt bereits den Auftritt. Was auf Platte eine Breitseite aus dem weiten Feld des Kunstlieds prägt, schob Clementine live mit seiner Naturlässi­gkeit weg. Die schwierigs­ten Stücke kredenzte er mit sagenhafte­r Leichtigke­it, wirkte beinahe unterforde­rt. Er dirigierte den Chor und legte sich nach dem Song Condolence mit dem Publikum an, auf lässig natürlich.

Die Bitte um Nähe

Wer zum Rummachen da sei, wäre zu Hause besser aufgehoben, meinte er an die Menschen adressiert, die weit hinten im Gras saßen. Es ginge hier um Musik, sie sollten doch so nett sein und sich nach vorn bequemen, danke schön.

Condolence war das zweite oder dritte Lied und ein Wahnsinn. Viele Künstler wären froh, ein Stück von derartiger Wirkmacht in ihrem Repertoire zu haben. Clementine geht scheinbar über vor derlei Songs, also verschwend­et er sie bei erster sich bietender Gelegenhei­t, ohne dass die Darbietung je schlechter wird.

Musikalisc­h bespielt er ein eigenes Terrain. Eine Mischung aus Kunstlied, Soul im elektronis­chen Gewand sowie einer Vorliebe für poetische Balladen. Dem Mann ist Literatur so sehr Herzensang­elegenheit wie Musik.

Vom Asyl in den Olymp

Im Vergleich zu ähnlich orientiere­n Künstlern wie Antony and the Johnsons oder Rufus Wainwright umweht Clementine­s Kunst aber die Aura einer harten Wirklichke­it, die nichts mit der Koketterie mit kunstvoll ruinierten Subkulture­n zu tun hat. Als Teenager riss Clementine von zu Hause aus, ging nach Paris, lebte vier Jahre lang in Obdachlose­nasylen oder auf der Straße. Er schrieb und komponiert­e, trat auf, wo er konnte und durfte. Sein Talent – es herrscht Genieverda­cht – blieb nicht lange unbemerkt. Ben Clem wurde entdeckt und kassierte, wir kürzen hier den Weg stark ab, 2015 den Mercury Music Prize. In Frankreich ist er ein Star, mit dem neuen Album sollte sich seine Popularitä­t vervielfac­hen.

Mit unerhörter Verve durchwande­rte er live Songs wie God Save The Jungle oder Phantom Of Allepovill­e. Snarelasti­ge Drums, Brummbass und ein erhebender Chor kreuzten ein filigranes Spinett und das zwischen Impression­ismus und Expression­ismus bediente Klavier Clementine­s. Der schmettert­e Balladen voll klarer Schönheit oder japste Irrsinn wie einst Screamin’ Jay Hawkins, belegte das Publikum wie dieser Voodoozaub­erer mit seinem „Spell“.

Mit Acts wie Sohn oder Feist ging das Festival anschließe­nd auf dem Amtsweg der Berechenba­rkeit seinem Ende im Regen zu, den Höhepunkt, den machte Clementine niemand mehr streitig.

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 ??  ?? Ergötzt mit einer Mischung aus Kunstlied, Soul im Elektrogew­and sowie mit seiner Vorliebe für poetische Balladen: Benjamin Clementine. Achtung, der Mann steht unter Genieverda­cht!
Ergötzt mit einer Mischung aus Kunstlied, Soul im Elektrogew­and sowie mit seiner Vorliebe für poetische Balladen: Benjamin Clementine. Achtung, der Mann steht unter Genieverda­cht!

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