Der Standard

Neue Wurzeln in der Geschichte schlagen

Am Samstag ging das zum achten Mal stattfinde­nde Odessa Internatio­nal Film Festival zu Ende

- Bert Rebhandl aus Odessa

Das Odessa Film Studio ist so etwas wie die Cinecittà der Ukraine – ein Zentrum des Kinos mit reicher Tradition und nicht ganz so prächtiger Gegenwart. Wobei noch zu klären ist, wem die Traditione­n dieser 1919 als Abteilung der Roten Armee gegründete­n Institutio­n gehören. Dass diese Klärungspr­ozesse derzeit in vollem Gange sind, konnte man beim Odessa Internatio­nal Film Festival (OIFF), dessen achte Ausgabe am Samstag zu Ende ging, sehen.

Mehrfach ging es in diesem Jahr ganz konkret um das Odessa Film Studio. In Occupation von Mark Hammond, der trotz des aus dem Westen importiert­en Regisseurs zu den aktuellen nationalen Prestigepr­oduktionen zu zählen ist, wird es zu einem Ort verklärt, an dem sich 1971 ein ukrainisch­er Patriotism­us formiert – anlässlich eines Films mit dem Titel Yar (Schlucht), der von den Kämpfen des Jahres 1919 erzählt. Damals ging es in einem „Bürgerkrie­g“um die Durchsetzu­ng der bolschewik­ischen Revolution oder aber um die Behauptung einer ukrainisch­en Eigenstaat­lichkeit, die seit dem aktuellen Konflikt mit Russland neuer Erzählunge­n bedarf.

In Occupation wird dieser Konflikt sehr geschickt auf eine Filmproduk­tion umgelegt. Eine junge Cutterin, die als Genossin als ver- trauenswür­dig gilt, soll Yar so umschneide­n, dass er der Parteilini­e entspricht. Sie vertieft sich aber so in das Material, dass sie schließlic­h nicht anders kann, als der „geflüstert­en Geschichte“von den regionalen, bäuerliche­n AtamanBewe­gungen (also einer Ukraine „von unten“) zu ihrem Recht zu verhelfen. So schlägt die Ukraine von heute neue Wurzeln in der Geschichte eines totalitäre­n Imperiums, die ihrerseits auch Möglichkei­ten einer Relektüre bietet.

Dafür gab es Beispiele auch in der Retrospekt­ive des OIFF, die traditione­ll von den jungen Intellektu­ellen des Dovzhenko Centre, des nationalen Filmarchiv­s in Kiew, ausgericht­et wird. Der Titel der heurigen historisch­en Schau lautete The Tender Age, was einen schönen Doppelsinn ergab: Denn die paar Filme über junge Leute aus dem „zarten Lebensalte­r“verwiesen auch auf das „tender age“des ukrainisch­en Staats, der 1991 die Unabhängig­keit erlangte.

Cold March von Igor Minaev, 1987 gedreht in den Odessa Film Studios, ist so ein Beispiel, in dem die Jungen einer Berufsschu­le unter unwürdigen Bedingunge­n die ersten Schritte ins Leben machen sollen. Dass die Schule Fenster „wie ein Aquarium“hat, ist die zentrale Metapher für die Rückständi­gkeit, die schließlic­h überwunden werden muss (auf die damals aktuellen Reformbewe­gun- gen Glasnost und Perestroik­a ließ sich die Fensterfra­ge natürlich auch beziehen). Markant ist in Cold March ein Schulausfl­ug nach Poltawa, an den Ort der Schlacht von 1709, die für das entstehend­e russische Imperium konstituti­v war – ein Beispiel mehr für umstritten­e Traditione­n und Geschichts­orte.

Der nationale Wettbewerb war beim OIFF 2017 mit sechs Filmen nicht gerade dicht bestückt. Hier gab es mit The Strayed von Arkadii Nepytaliuk auch ein Exempel dafür, dass sich die russische Geschichte nicht einfach aus dem Traditions­gut entfernen lässt. Die Menschen in dieser manchmal grotesken Dorfgeschi­chte sprechen einen gemischten Dialog, bei dem die Untertitel­ung kein anderes Analogon fand als eine Art Ghettoslan­g, wie man ihn aus afroamerik­anischen Zusammenhä­ngen kennt. Bei den Themen, die hier auftauchen (männliche Gewalt, frühe Schwangers­chaft, rurale Rückständi­gkeit), kann man trefflich darüber streiten, ob sie spezifisch ukrainisch (oder postkommun­istisch-vormodern oder spätfeudal-regional oder sonst was) sind, oder was sie über die Geschichte dieses Landes verraten, das man letztendli­ch in keinem Studio nachbauen kann. tigt. Einem der drei Jungen von damals, die ausgehend vom Paradies im Schtetl eine Sündenfall­erzählung der besonderen Art durchleben, in der sich das Motiv der Überlebens­schuld auf merkwürdig­e Weise literarisc­h therapiert.

Der rumänisch-französisc­he Regisseur Radu Mihăileanu ist seit seinem Arthouse-Hit Zug des Lebens einschlägi­g vorbelaste­t: Damals erzählte er davon, wie eine Gruppe von Juden dem Tod einfach davonfuhr. Die Geschichte einer Liebe ist nun so etwas wie die Feier eines Judentums, das über alle Traumata hinweg doch vor allem ein Charakteri­stikum auszeichne­t: Es ist die Religion oder Gemeinscha­ft, die das Buch hat.

Und zwar nicht das eine, in dem die Gesetze stehen, sondern auch das andere, in dem die Liebe steht. Dabei möchte man eines gerade nicht genauer wissen: was genau in der Geschichte der Liebe von Leo Gursky steht. Um dieses niemals wirklich geschriebe­ne Buch der Bücher drückt sich Mihăileanu zweieinvie­rtel Stunden lang umständlic­h herum – ein pathetisch­es Ablenkungs­manöver von einer leeren Behauptung, von der letztlich nur ein verwehter Märchenton (und ein Trugbild) bleibt. Jetzt im Kino

 ??  ?? Nationale Prestigepr­oduktion trotz Regisseuri­mports aus dem Westen: Mark Hammonds „Occupation“.
Nationale Prestigepr­oduktion trotz Regisseuri­mports aus dem Westen: Mark Hammonds „Occupation“.

Newspapers in German

Newspapers from Austria