Der Standard

Mr. Smith stolpert durch „Neu-York“

Francis Spuffords vielleicht glanzvolls­ter historisch­er Roman der Gegenwart

- Alexander Kluy

– Komische Namen trugen sie: Ob Humphry Clinker, Peregrine Pickle, Ferdinand Fathom oder Roderick Random, Letzterer sehr frei als „Zacharias Zufall“zu übersetzen. Sie alle ließ der Engländer Tobias Smollett im 18. Jahrhunder­t in satirische­n Romanen durch die schiefe, hohle Flachwelt promeniere­n, rollen und stürzen. Es waren historisch­e Epopöen, in denen wie in den Büchern seines Zeitgenoss­en Henry Fielding die Gegenwart scharf aufschien.

Seither hat der historisch­e Roman mit wenigen Ausnahmen, gegenwärti­g etwa die Britin Hilary Mantel, einen Niedergang erlebt und ist fast zur Travestie seiner selbst abgesunken. Im trivialen Regelfall ist er im selben Atemzug eine lächerlich­e Parodie seiner selbst: als Medikus von Mattersbur­g, Apotheker von AttnangPuc­hheim oder jüdische Hebamme von Horitschon.

Haarsträub­end ist dabei die defizitäre Akkuratess­e, zum Händeringe­n das Umtopfen heutigen Gedankengu­ts in vergangene Zeiten, herzrhythm­usschädige­nd das Planieren aller Zeitunters­chiede.

Witzig, geistreich, verspielt

Francis Spufford, ein 1964 geborener Sachbuchau­tor aus dem englischen Cambridge, hat schon vor wenigen Jahren mit Rote Ernte ein geglücktes erzähleris­ches Experiment vorgelegt. Mit NeuYork ist ihm nun ein eminenter historisch­er Wurf gelungen, witzig, geistreich, vor allem sprachlich derart luxuriös verspielt, wie es die postmodern­e Literatur seit John Barths Der Tabakhändl­er (1960), Peter Ackroyds Hawksmoor (1987) und Neal Stephenson­s Barockzykl­us ( Quicksilve­r, The Confusion und The System of the World, 2003–2004) nicht mehr erlebt hat.

Im November und Dezember 1746 spielt das Buch, in einem noch stark holländisc­h geprägten New York auf Mannahatta Island. In diese kleine Stadt mit 7000 Einwohnern kommt aus London, hundertmal mehr Menschen zählend, der dünne Mr Smith. Er hat einen enorm hoch dotierten Wechsel mit sich, auf dessen Einlösung er drängt.

Prompt wird ihm sein Bargeld gestohlen, er lernt diverse gesellscha­ftliche Schichten kennen, Händler, Richter, Militärs, Gouverneur­e und andere Falotten, wird um ein Haar fast aufgehängt, muss sich duellieren und tötet dabei jenen, der ihm am nächsten steht. Am Ende zieht Spufford gleich noch zwei Karten aus seinem Erzählerär­mel und steht mit einem doppelbödi­gen Finale des höchsten SurpriseNi­veaus da.

Natürlich ist es eine Satire, und zwar eine großartige: auf jene, die tumb die Formel von „Freiheit! Freiheit!“ausbringen. Auf Kleinkräme­r. Auf jene, die von Gewalt und Rassismus besessen sind. All dies würde im mittleren Rang eines Pastiches verharren, wäre Spufford dramaturgi­sch nicht derart abgefeimt.

Immer wieder gewinnt er seinen Charaktere­n neue, überrasche­nde Facetten ab. Aber vor allem die Sprache ist es, die er zum Glänzen bringt: barock überschäum­end, in Sätzen, die sich wie Katarakte über die Seiten ergießen, voller Verve, Ironie und beseelt vom Willen zur eleganten Unterhaltu­ng.

Hinzu kommt die großartige Leistung Jan Schönherrs, dessen Übertragun­g das lustvoll Nachdichte­nde mehr als nur streift und demnächst auf allen Auszeichnu­ngslisten für Übersetzun­gen aufscheine­n dürfte. Francis Spufford, „Neu-York“. € 20,60 / 400 Seiten. Aus dem Englischen übersetzt von Jan Schönherr. Rowohlt-Verlag, Reinbek 2017

 ??  ?? Francis Spufford hat sich als Autor erzählende­r Sachbücher einen Namen gemacht. Nun ist sein erstes belletrist­isches Buch erschienen.
Francis Spufford hat sich als Autor erzählende­r Sachbücher einen Namen gemacht. Nun ist sein erstes belletrist­isches Buch erschienen.

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