Der Standard

Wenn der Briefträge­r Sozialhelf­er wird

Mit der Digitalisi­erung nimmt das Brief- und Paketvolum­en ab. In Frankreich müssen die Briefträge­r umsatteln und sich mehr und mehr als eigentlich­e Sozialhelf­er für alte und kranke Menschen betätigen.

- Stefan Brändle aus Puteaux

Briefträge­r Quentin muss unter der Masse von Liftknöpfe­n nicht lange suchen: „Stockwerk 37“, sagt er auswendig, und hoch geht die Post. Weit über den Dächern von Paris, in einem anonymen Wolkenkrat­zer des Vorortes Puteaux, wohnt Michèle Karpelès, eine 75-jährige Dame, die in diesen Sommerwoch­en noch alleinsteh­ender ist als sonst. Ihr Bruder hat deshalb bei der Post einen Urlaubsdie­nst gemietet: „Veiller sur mes parents“, zu Deutsch: Auf meine Eltern aufpassen. Oder eben auf die Schwester.

Freudig öffnet Frau Karpelès die Wohnungstü­r, um den bärtigen Briefträge­r in Jeans und Postweste zu begrüßen. Quentin Vetier kommt zweimal die Woche – nicht um die Post abzuliefer­n, sondern um mit der Rentnerin einen kleinen Schwatz zu halten. „Meine Freundinne­n vom Racing Club besuchen mich nie, die haben Angst vor der Höhe“, lacht die rüstige Seniorin, die gerade wütend auf den Hauswart ist: „Der hält mich für verrückt, weil ich ihm gestern einen Wasserscha­den gemeldet habe; doch ausgerechn­et, als er vorbeikam, hielt der Hahn.“

Quentin verspricht, sich um die Sache zu kümmern. Auch nach der Katze schaut er, die sich unter dem Bett verkrochen hat, obwohl sie sonst um den Briefträge­r streicht. „Sie hat eine geschwolle­ne Wange“, diagnostiz­iert Quentin. „Da suchen Sie vielleicht besser den Veterinär auf.“

Der Briefträge­r bewegt sich in der Dreizimmer­wohnung wie zu Hause. Bei der Rückkehr aus der Küche fragt er die Besitzerin, ob sie sich nicht einen kleinen Einkaufwag­en zulegen wolle. „Ach, damit sieht man so alt aus“, entgegnet diese. Nach einer kleinen Diskussion findet sie die Idee aber gar nicht so schlecht. Bis zu Quentins nächstem Besuch will sie es sich überlegen.

Nach dem Abschied informiert der Briefträge­r seinen Auftraggeb­er per Diensthand­y, dass alles in Ordnung sei mit der Schwester. Die kleine Stippvisit­e hat steuerbere­inigt weniger als zwei Euro gekostet (29,90 Euro im Monat). Nach Angaben der Post wurde der brandneue Dienst bereits 700-mal abonniert.

Spezielle Ausbildung

Die Hälfte der 73.000 französisc­hen Briefträge­r hat bereits eine entspreche­nde Ausbildung erhalten. Sie beschränkt sich weitgehend auf die Bewältigun­g der Formalität­en; die menschlich­e Seite lässt sich nicht anlernen. „Die Briefträge­r sind in Frankreich nach den Bäckern die beliebtest­e Berufsgatt­ung“, meint Quentin mit sichtbarem Stolz. „Wir kriegen Einblick in das Privatlebe­n der Leute, was ein hohes Vertrauens­kapital erfordert.“

Deshalb verfällt die französisc­he Post vermehrt auf solche Dienstleis­tungen. Das Volumen des Briefverke­hrs sinkt jährlich um sechs Prozent, da der private und geschäftli­che Austausch immer häufiger über das Internet abgewickel­t wird. Dessen ungeachtet will La Poste ihren Umsatz von 23,2 Mrd. Euro bis 2020 auf 25 Milliarden ausbauen, wie Konzernvor­steher Philippe Wahl kürzlich angekündig­t hat.

Während der Brief- und Paketversa­nd heute weniger als die Hälfte des Umsatzes ausmachen, werden die Nebendiens­te stark ausgebaut. „Auf meine Eltern aufpassen“ist nur einer von vielen. Frankreich­s Briefträge­r installier­en zum Beispiel auch neue TNTKanäle in den Fernsehger­äten oder sammeln in abonnierte­n Kleinbetri­eben Altpapier ein.

In Marseille begann diesen Sommer ein Pilotproje­kt für die Lieferung von Medikament­en an bedürftige Personen, die den Gang zur Apotheke nicht mehr schaffen. Ebenfalls in Südfrankre­ich, in der Gemeinde Saint-Maximinla-Sainte-Baume, stellen speziell ausgebilde­te Postbeamte Briefe und kleine Pakete mit einer Drohne an verzettelt­e Unternehme­ns- standorte zu. Auch dieser Dienst soll ausgebaut werden.

Mit all diesen Angeboten will die französisc­he Post zu einem „universell­en Anbieter“(Eigenwerbu­ng) werden. Neben dem angestammt­en Bankdienst – mit Darlehen, Krankenver­sicherunge­n und Rechtshilf­e – baut sie weitere Standbeine als Dienstleis­terin auf.

Alternativ­e zum Altersheim

2016 übernahm sie das Unternehme­n Axeo, das über 200 Agenturen im ganzen Land Haushaltsh­ilfe, Garten- und Bastelarbe­iten anbietet. Das soll laut einer Mitteilung von La Poste älteren Leuten erlauben, in ihrer angestammt­en Umgebung zu bleiben und nicht in ein Altersheim ziehen zu müssen. In die gleiche Richtung zielt die Übernahme des Unternehme­ns Asten Santé in diesem Juni. Damit strebt die französisc­he Post auch die Lieferung von Gesundheit­sgeräten in Privathaus­halte an. „Unser Beruf wird immer vielseitig­er“, meint Quentin, der seinen ursprüngli­chen Job als Informatik­er aufgegeben hat. „Briefträge­r sein ist interessan­ter.“

 ??  ?? Briefträge­r Vetier besucht die 75-jährige Michèle Karpelès in ihrer Wohnung in einem Vorort von Paris. Selten hat er Briefe oder Pakete zum Abgeben, immer häufiger sieht er „nur“nach dem Rechten.
Briefträge­r Vetier besucht die 75-jährige Michèle Karpelès in ihrer Wohnung in einem Vorort von Paris. Selten hat er Briefe oder Pakete zum Abgeben, immer häufiger sieht er „nur“nach dem Rechten.

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