Der Standard

Der singende Surrealist auf Roms Kaiserthro­n

Mit der Neuherausg­abe von Dezsö Kosztolány­is Künstlerro­man „Nero“wird ein Schlüsselt­ext der Epochenkri­tik wiederum zugänglich. Der Autor wirft durch das Brennglas der Antike Blicke auf die Schrecken der Moderne.

- Ronald Pohl

Wien – Mit den unsterblic­hen Göttern verfährt Nero, der Dichter auf dem Kaiserthro­n, wie mit seinesglei­chen. Seinen hässlichen roten Bart lässt er schneiden, die Haare in eine Perlenscha­tulle stecken. Das Kleinod macht er Jupiter in dessen Tempel zum Geschenk. Eine Gefälligke­it unter Gleichgest­ellten.

Als exzentrisc­her Herr über Rom ist Nero (37–68 n. Chr.) für buchstäbli­ch jeden Unfug zu haben. Er zermartert sich nicht etwa den Kopf darüber, wie er seinem Reich dessen Fortbestan­d sichern könnte. Er verspürt in sich lebhaft die Berufung zum Dichter. Als antiker Poet stellt Nero sich und anderen hochmodern­e Fragen. Seinen berühmten Lehrmeiste­r Seneca verblüfft er mit folgender Feststellu­ng: „Die Menschenkö­pfe sind den Nüssen ähnlich. Findest du nicht? Oder vielleicht Eiern. Man müsste sie aufbrechen und nachsehen, was in ihnen steckt.“

Hier ist natürlich der Moment gekommen, an Büchner zu denken, an den gescheiter­ten Radikalen Danton, an das Drama des menschlich­en Selbsthass­es in der Morgenröte der Revolution. Der Roman Nero, der blutige Dichter ist ein wahres Wunderwerk des ungarische­n Prosaikers Dezsö Ko- sztolányi (1885–1936), das den Dachshaarp­insel der Epochenmal­erei vermissen lässt. Freunde des gehobenen Sandalenro­mans nehmen besser mit Henryk Sienkiewic­zs Quo vadis? vorlieb.

Wahnsinnig­er auf dem Thron

Kosztolány­i bestreitet gar nicht, dass mit Nero, der historisch verbürgten Figur, ein Wahnsinnig­er über die Stadt von Romulus und Remus geherrscht haben könnte. Er wechselt nur den Blickwinke­l. Neros sprunghaft­er Ehrgeiz besteht darin, die Mitwelt durch Originalit­ät zu verblüffen. Als Rhap- sode an der Leier verzapft er hanebüchen­en Unsinn. Doch steht dieser dicke Jüngling unter dem Zwang, alles bisher Dagewesene übertreffe­n zu müssen.

Die auf Ebenmaß und Harmonie gegründete Kunst der Antike verliert ihre Mitte, ihre göttergewo­llte Autorität. Ihrer moralische­n Maßstäbe beraubt, schrumpft sie zum bloßen Reizmittel, zum frivolen Gegenstand des seiner Sicherheit beraubten Bewusstsei­ns.

Nero fängt an, mit den Versatzstü­cken der Wirklichke­it zu jonglieren. Es hat den Anschein, als wolle er vornehmlic­h sich selbst verblüffen. Also „singt“er, was so viel bedeutet wie: Er deklamiert Verse. Er versucht sich aber parallel auch als Wagenlenke­r, als Bettler, Säufer, als personifiz­ierte Schicksals­gewalt. Anonyme Passanten sticht dieser Agent der Doit-yourself-Methode im Häuserscha­tten nieder. Auf die ersterbend­e Frage „Warum?“antwortet Nero sinngemäß und gar nicht unfreundli­ch: aus Interesse.

Seneca, selbst als Dichter eigentlich ein glatter Nachahmer der Stoiker, schüttelt über seinen aufgewühlt­en Zögling den Kopf. Von Angesicht zu Angesicht ge- bietet er dem Kaiser jedoch keinen Einhalt, sondern reüssiert als Speichelle­cker. Er ist meistens unabkömmli­ch, schützt Schreibarb­eiten vor, während Nero seinen Halbbruder Britannicu­s meuchelt, den im Gegensatz zu ihm selbst hochbegabt­en Poeten.

Keine kunstvoll drapierte Toga verhüllt den Hergang eines psychologi­schen Skandals. Kosztolány­is Roman erschien im ungarische­n Original 1922. Die damalige Übersetzun­g Stefan Isidor Kleins, heute neu durchgeseh­en von Akos Doma, vibriert vor analytisch­er Anstrengun­g. Ihre Parallele findet diese Prosa in gewissen Schöpfunge­n des deutschen Expression­ismus, freilich ohne dessen Bürgerschr­eckattitüd­e zu teilen. Ein Wurf, der ehedem auch Thomas Mann den Atem benahm. Kein Wort über die Christenve­rfolgungen; eine vage Andeutung nur über den verheerend­en Brand der Stadt Rom.

Wurmzerwüh­lte Erde

Nero nimmt ein verhältnis­mäßig schmählich­es Ende. Auf der Flucht in den Staub gestreckt, rätseln die letzten Getreuen über das Charisma dieses manischen Moderniste­n, der akut unfähig war, Kunst und Leben voneinande­r zu unterschei­den. „Alle Dichter sind fruchtbar“, sinniert ein Hinterblie­bener. „Aus ihnen wachsen Schönheit und Blumen. Der Blumen Wurzel aber steckt in der feuchten, wurmzerwüh­lten Erde.“Man möchte nach der Lektüre des Romans „Bruder Nero“spontan in die Arme schließen. Doch prallt man auch angeekelt vor ihm zurück. Dezsö Kosztolány­i, „Nero, der blutige Dichter“. Roman. Aus dem Ungarische­n von Stefan Isidor Klein. Mit einem Nachwort von Lothar Müller. € 24,– / 336 Seiten. Rowohlt, Berlin 2017

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So sah er aus, so sollte ihn, den Terroriste­n und Ästheten, die Nachwelt in Erinnerung behalten: Kaiser Nero (hier als Büste), von Autor Dezsö Kosztolány­i zum Anarchiste­n erklärt.

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