Der Standard

Österreich und die EU: Wo ist unser Macron?

Im Wahlkampf war kaum etwas über die Positionie­rung Österreich­s in einem sich wandelnden europäisch­en Umfeld zu hören. Wird Wien zu den Hauptstädt­en gehören, in denen Europas Zukunft gestaltet wird? Oder bremsen Zauderer und Opportunis­ten?

- Erhard Fürst

In der Europäisch­en Union scheint gegenwärti­g Windstille zu herrschen, und dies trotz innerer Spannungen in der Gemeinscha­ft und hohen Wellengang­s in verschiede­nen Weltregion­en. Das hat nicht nur mit der konzentrie­rten Urlaubsabw­esenheit der Brüsseler Bürokratie im August zu tun, sondern deutet auf Ruhe vor einem Sturm hin. Tatsächlic­h scheint die EU vor einem massiven Veränderun­gsprozess zu stehen, der nach den deutschen Bundestags­wahlen von Macron und Merkel eingeleite­t werden wird, vorausgese­tzt, Letztere bleibt Bundeskanz­lerin.

Der Baustellen sind viele. Da ist die Flüchtling­s- und Migrations­frage, die trotz des gegenwärti­g relativ geringen Menschenzu­stroms eine langfristi­ge Herausford­erung für Europa darstellt, die jederzeit wieder gefährlich aufbrechen kann und dringend eine gemeinsame Vorgangswe­ise der Mitgliedsl­änder auf europäisch­er Ebene erfordert. Daran schließen sich – verstärkt durch einen unberechen­baren, amerikazen­trierten US-Präsidente­n – unmittelba­r Fragen der inneren und äußeren Sicherheit Europas an, die nur im Rahmen einer gemeinsame­n Außen-, Militärund Entwicklun­gspolitik sowie einer engeren Kooperatio­n der nationalen Sicherheit­ssysteme gelöst werden können.

Auch die Erweiterun­gspolitik der EU muss angesichts der ablehnende­n Haltung der Bürger und der negativen Erfahrunge­n mit vergangene­n Erweiterun­gsschritte­n unter Bedachtnah­me auf innereurop­äische und außenpolit­ische Konsequenz­en auf den Prüfstand gestellt werden. Auch deswegen ist es dringend geboten, eine tragfähige Basis in den Beziehunge­n Europas zu seinen Nachbarn Russland und Türkei zu finden.

Weiters besteht die Gefahr einer inneren Spaltung der EU in eine Gruppe stark nationalis­tisch ausgericht­eter und demokratis­che Werte geringschä­tzender Mitgliedss­taaten und eine einflussre­iche Gruppe mit (vorerst?) noch gefestigte­n demokratis­chen Institutio­nen und Einstellun­gen. Die jüngsten Wahlgänge in Österreich, den Niederland­en und Frankreich und der Bedeutungs­verlust der deutschen Rechtspart­eien haben die zweite Ländergrup­pe wieder gestärkt und ein „window of opportunit­y“für die Umsetzung einer europäisch­en Reformagen­da geschaffen.

Die augenblick­lich sehr günstige Konjunktur­entwicklun­g darf die wirtschaft­lichen Risiken, denen Europa (und die Weltwirtsc­haft) ausgesetzt ist, nicht vergessen lassen. Stichworte dazu sind Protektion­ismus, Arbeitspla­tzgefährdu­ng durch Digitalisi­erung und Roboterisi­erung in den Industries­taaten und Schwellenl­ändern, disruptive Reaktionen der Finanzmärk­te auf das Auslaufen der Nullzinspo­litik und der massiven Wertpapier­ankäufe der Notenbanke­n, fortgesetz­te Schwächen im europäisch­en Bankensyst­em.

Dazu kommen spezifisch­e Problemlag­en in der Eurozone, von der ungenügend­en realwirtsc­haftlichen Konvergenz, den Schwierigk­eiten wichtiger Mitgliedss­taaten mit der Einhaltung der Budgetund Verschuldu­ngskriteri­en, der Governance der Eurozone im Rahmen der EU bis zu den unvollende­ten Großprojek­ten Bankenunio­n, Kapitalmar­ktunion und den Forderunge­n vor allem südlicher Mitgliedsl­änder nach einem Eurozonenf­inanzminis­ter mit Eurozonenb­udget und der Schaffung eines europäisch­en Währungsfo­nds. Nicht zu vergessen die Diskussion über die Fortentwic­klung der EU zu einer Sozialunio­n mit z. B. einem EU-weiten Arbeitslos­enversiche­rungssyste­m. Zusätzlich ist in den nächsten eineinhalb Jahren der Brexit als Querschnit­tsmaterie über alle EUAgenden abzuwickel­n, der Ressourcen bindet und jedenfalls eine langfristi­ge politische und wirtschaft­liche Schwächung der EU und Großbritan­niens mit sich bringt.

Die riesige Reformagen­da, der sich EU und Eurozone gegenübers­ehen, kann im Rahmen der traditione­llen europäisch­en Prozeduren von den (noch) 28 EU- bzw. 19 Eurozonenm­itgliedern nicht in nützlicher Frist umgesetzt werden, und schon gar nicht mit den jetzt in Brüssel aktiven Spitzenfun­ktionären. Das heißt, eine voraussich­tlich relativ kleine Gruppe von Mitgliedsl­ändern, geschart um die deutsch-französisc­he Achse, wird in den nächsten Jahren Tempo und Inhalte der europäisch­en Reformagen­da vorgeben. Sie wird dabei alle im EU-Vertrag zur Verfügung stehenden Möglichkei­ten unterschie­dlicher Geschwindi­gkeiten sowie vertiefter Zusammenar­beit und vor allem das Instrument intergouve­rnementale­r Vereinbaru­ngen nutzen.

Macron hat in Frankreich mit bewunderns­wertem Mut einen Wahlkampf für Weltoffenh­eit, pro EU und pro Globalisie­rung geführt, aber auch für seine ambitionie­rte nationale Reformagen­da. Und er hat diese Wahl eindrucksv­oll gewonnen. Dass er nach 100 Tagen Amtszeit in ein Stimmungst­ief gefallen ist, zeigt die Ernsthafti­gkeit seiner Modernisie­rungspolit­ik für Frankreich.

Er lässt auch keinen Zweifel an seinen Reformplän­en für Europa und insbesonde­re die Eurozone. Das geht nur gemeinsam mit Deutschlan­d und setzt voraus, dass alle Euroländer ihre Hausaufgab­en leisten und dies nötigenfal­ls durch wirksame Sanktionen durchgeset­zt werden kann. Als Gegenleist­ung würde Deutschlan­d eine weitere Vertiefung der wirtschaft­lichen und politische­n Integratio­n innerhalb der Eurozone ermögliche­n.

Österreich wählt in rund zwei Monaten, und man hat bisher relativ wenig von einer wirklich ambitionie­rten nationalen Agenda gehört und praktisch nichts über die Positionie­rung Österreich­s in einem sich wandelnden europäisch­en Umfeld. Die entscheide­nde Frage für Österreich­s weitere Entwicklun­g wird sein, ob unser Land in der Gruppe der „willigen“Mitgliedss­taaten um Deutschlan­d und Frankreich die Zukunft Europas und dessen Position in der Welt aktiv mitgestalt­en möchte und bereit sein wird, Beiträge in Form weiterer Souveränit­ätsverzich­te und auch eines verstärkte­n finanziell­en Engagement­s zu leisten; oder ob es sich im hinteren Feld der Zauderer, Populisten, Opportunis­ten und Schrebergä­rtner einreiht. Die Erfahrunge­n der Vergangenh­eit und der bisherige Wahlkampf lassen leider Letzteres befürchten. Außer es findet sich doch noch ein „österreich­ischer Macron“.

ERHARD FÜRST (Jg. 1942) ist Jurist und Ökonom. Er war Forscher am IHS und Chefökonom der IV.

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Emmanuel Macron und Christian Kern unlängst in Salzburg. Der eine gibt in der EU den Ton an, der andere eher nicht.
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Foto: APA Erhard Fürst: Reformen nach der deutschen Wahl.

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