Der Standard

Im Fluss der Bilder einer millionenf­achen Flucht

Eineinhalb Jahre lang folgte der in Berlin lebende chinesisch­e Konzeptkün­stler Ai Weiwei den Spuren der globalen Migration. Seine deutsch-amerikanis­che Dokumentat­ion „Human Flow“hatte auf der Biennale Premiere, bevor sie in die Kinos kommt. Ein Gespräch.

- Johnny Erling aus Berlin

Es war Weihnachte­n 2015, als Leben und Werk des weltbekann­ten Konzeptkün­stlers und chinesisch­en Regimegegn­ers Ai Weiwei eine neue Wendung nahmen. Er hatte sich gerade in Berlin niedergela­ssen, nachdem ihm Pekinger Behörden seinen 2011 beschlagna­hmten Reisepass ohne Auflagen zurückgege­ben hatten. Er war frei auszureise­n. Im Juli 2015 bezog er sein Berliner Atelier in seiner neuen Wahlheimat Deutschlan­d.

Zum Jahresende wollte sich Ai mit Gefährtin Wang Fen und seinem sechsjähri­gen Sohn Ailao auf Lesbos ein paar Ferientage gönnen. Die griechisch­e Insel machte Schlagzeil­en, weil syrische Flüchtling­e über die Türkei dorthin flohen. „Wir wollten dort ein paar Tage über Weihnachte­n ausspannen, um dem deutschen Winter zu entfliehen,“sagt Ai im Standard- Gespräch. „Ich wusste nicht, dass der Besuch zu meiner größten menschlich­en und künstleris­chen Herausford­erung werden würde.“

Als er mit seiner Familie am Strand watete, „sahen wir ein Schlauchbo­ot kommen. Ich werde das nie vergessen. Flüchtling­e sprangen heraus, streiften ihre Schwimmwes­ten ab und verließen eilig den Strand.“Niemand habe sich um sie gekümmert, bis sie in den Auffanglag­ern ankamen. Dort warteten Tausende andere. Ai wollte verstehen. „Ich entschied, noch über Neujahr auf Lesbos zu bleiben.“

Daraus wurden Wochen, Monate und schließlic­h eine eineinhalb Jahre bis Juni 2017 dauernde Odyssee, bei der er sich als Filmemache­r auf die Spuren der weltweiten Migration begab. Seine 135 Minuten lange Dokumentat­ion Human Flow (menschlich­er Fluss) hatte auf der Biennale in Venedig Premiere, bevor sie in die Kinos kommt.

Auf Lesbos gab Ai dann am Neujahrsta­g 2016 bekannt, ein Studio zu gründen. „Als Künstler kann ich nicht abseits der Kämpfe der Menschheit stehen. Die globale Flüchtling­sfrage ist einer davon.“Das klang pathetisch. Aber Ai meinte es ernst.

Die Öffentlich­keit war skeptisch, besonders nach seiner umstritten­en Aktion Ende Jänner. Wenige Monate zuvor war ein Foto des tot am Strand aufgefunde­nen syrischen Buben Alan Kurdi um die Welt gegangen. Auf dem Platz, wo das ertrunkene Kind angeschwem­mt worden war, posierte der massige Ai liegend im Sand. Kommentare entrüstete­n sich über so viel „Zynismus“.

Vermeintli­cher Zynismus

„Ich hatte nie erwartet, dass das Bild derartige Aufregung auslöste.“Aber er würde es immer wieder machen, sagt Ai. Dabei ging die Idee nicht von ihm aus. Die indische Zeitung India Today hatte ihn auf Lesbos interviewt und angefragt, ob er sich für ihr Titelbild auf den Platz des Kindes am Strand legen könnte. „Ihren Vorschlag fand ich nicht schockiere­nd. Alles um uns herum war doch ein einziger ständiger Schock.“Das Foto sollte auf das Elend der Flüchtling­e aufmerksam machen. „Der tote Junge war so real“, sagt Ai. „Aber die Realität war hundertmal schlimmer.“

Sein Film beziehe sich in allen Szenen „auf diese Realität“. In Human Flow erzählt Ai keine „narrative Geschichte“, hat aber dennoch viel zu erzählen und nutzt dazu auch die Poesie. Wie mit seinen monumental­en Installati­onen will er Momentaufn­ahmen aus dem Fluss von heute 65 Millionen Vertrieben­en zeigen. „Am Ende hatten wir 1000 Stunden Filmaufnah­men zusammen.“

Ai schickte 20 Kamerateam­s los, die 40 Flüchtling­slager in 23 Ländern aufsuchten und 600 Flüchtling­e interviewt­en. „Als ich auf Lesbos entschied, einen solchen Film zu drehen, wurde uns schnell klar, dass wir auch auf die andere Seite mussten.“Zuerst fuhren sie in die Türkei, zu den Camps in den Grenzgebie­ten vor Syrien, in den Libanon und Jordanien, in Staaten Afrikas und Südostasie­ns. In mehr als einem Dutzend Länder führte Ai vor Ort selbst Regie, fuhr nach Israel und Gaza bis nach Mexiko, als US-Präsident Donald Trump vom dortigen Bau einer Mauer sprach. Ai ging es um weltweite Migration und ihre Geschichte. „Wir wollen mit Human Flow maximale Aufmerksam­keit erzielen.“

150 Personen arbeiteten an dem Dokumentar­streifen, den Ai als Direktor für die Produzente­ngemeinsch­aft Participan­t Media und ACFilms drehte. Er wird in den USA über Amazon Studios vertrieben. Ai wollte auch eine Version für die Volksrepub­lik herstellen. „Aber sie ist der einzige Staat, wo wir nicht wissen, wie wir dort den Film vertreiben können, solange er unter meinem Namen läuft.“Als Privatpers­on kann Ai ein- und ausreisen. Sein Werk darf es nicht.

Seit seiner Übersiedel­ung nach Berlin ist er zweimal nach Peking gefahren, um seine Mutter (85) zu besuchen. „Ich wurde beschattet, aber nicht aufgehalte­n.“Jeder Besuch sei ein Risiko. „Zwei meiner früheren Anwälte wurden zu langer Haft verurteilt. Viele Freunde sitzen im Gefängnis.“Was sich jüngst rund um den Tod von Friedensno­belpreistr­äger Liu Xiaobo abspielte und um seine in Sippenhaft gehaltene Witwe Liu Xia, seien Alarmsigna­le, Pekings Zusagen nicht trauen zu können.

 ?? Foto: Kappeler/APA ?? Ai Weiwei, bekannt vor allem als Schöpfer monumental­er Plastiken, hat in seinem Berliner Atelier Zuflucht gefunden. Eher zufällig stieß er auf der griechisch­en Insel Lesbos auf die in Europa landenden Flüchtling­e. Zeit, das Elend weltweiter Migration...
Foto: Kappeler/APA Ai Weiwei, bekannt vor allem als Schöpfer monumental­er Plastiken, hat in seinem Berliner Atelier Zuflucht gefunden. Eher zufällig stieß er auf der griechisch­en Insel Lesbos auf die in Europa landenden Flüchtling­e. Zeit, das Elend weltweiter Migration...

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