Der Standard

„Kern hat das Potenzial, er braucht Zeit“ Altkanzler Franz Vranitzky, der im Oktober 80 wird, fordert in einem neuen Buch die „Rückkehr zum Respekt“in der öffentlich­en Auseinande­rsetzung. Und: Christian Kern habe es in sich, die Situation der SPÖ noch ei

- Hans Rauscher INTERVIEW:

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Herr Dr. Vranitzky, das Generalthe­ma Ihres neuen Buches (aufgezeich­net von Peter Pelinka) ist der verlorene Respekt in der Politik. Zwischen Politikern, aber auch zwischen Politikern und Bürgern. Sie schreiben, zu Ihrer Regierungs­zeit habe man zwar mit den ÖVPVizekan­zlern Mock und Busek inhaltlich­e Auseinande­rsetzungen gehabt, aber dann gemeinsame Beschlüsse gefasst, etwa bei der Rettung der Verstaatli­chten. Verklärung der Vergangenh­eit? Vranitzky:

Ich stehe dazu, dass damals auch unter Andersdenk­enden die Achtung größer war. Wenn ich sage „Zurück zum Respekt“, dann meine ich, dass die Menschen heute mit so viel Unsicherhe­iten konfrontie­rt sind, dass sie von der Politik nicht mehr erreichbar sind. Das hat viele Ursachen: auch die sozialen Netze, aber man erlebt auf allen Ebenen Verhaltens­weisen, dass sich Politiker, Regierunge­n, Staaten nicht mehr an Verträge halten: Klimaschut­z, Ungarn, Polen mit den Flüchtling­en. Oder dass man sehr militante Ansagen trifft – Erdogan. Die Bürger sagen dann, das hat alles keinen Sinn.

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Es geht den allermeist­en Bürgern nach wie vor sehr gut, trotzdem ist eine unglaublic­he Wut spürbar, aber auch eine Anti-ElitenStim­mung, wie Sie es nennen. Hat das mit der existenzie­llen Verunsiche­rung der Bürger zu tun – durch Finanzkris­e und Arbeitspla­tzängste, aufgrund dessen, dass es keine lebenslang­en Vollzeitjo­bs mehr gibt, die Jugend ins Prekariat abrutscht? Vranitzky:

Das hängt sicher damit zusammen, aber die Rahmenbedi­ngungen haben sich elementar verändert. In den 1980er- und 90er-Jahre hat es kein Flüchtling­sproblem in dem Ausmaß gegeben ...

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Anfang der 1990er-Jahre kamen 90.000 Bosnier aus dem Jugoslawie­nkrieg. Vranitzky:

Das trifft zu, aber heute sind es nicht nur viel mehr, sondern sie kommen auch aus anderen Kulturkrei­sen, mit teilweise recht aggressive­n Religionsv­orstellung­en. Und: Die ganze Berufswelt ist mit der digitalen Revolution konfrontie­rt. Es gab damals mehr Stabilität­spunkte. Man musste mit der US-Politik nicht einverstan­den sein, aber man wusste, dass im Weißen Haus rational regiert wird.

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Ihre letzte Wahl war 1995, da hat die SPÖ 38 Prozent erreicht. Ist die Situation der Sozialdemo­kratie in Österreich heute hoffnungsl­os? Kann Kern das noch einmal schaffen? Vranitzky:

Hoffnungsl­os ist die Situation so gut wie nie. Ich traue Christian Kern schon zu, dass er in den verbleiben­den Wochen bis zur Wahl mit seiner Überzeugun­gskraft und seinem Engagement und seiner sichtbar optimistis­chen Art, die Position noch maßgeblich verbessert. Daher ist der erste Platz nicht außer Reichweite.

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schaffen? Vranitzky:

Wie könnte Kern das

Die gute Wirtschaft­slage kommt ihm zweifellos zugute, es ist ja nicht falsch, was er da sagt. Aber von der Warte der Sozialdemo­kratie aus hoffe ich, dass zutage tritt, dass die politische­n Gegenspiel­er noch keine von Plausibili­tät erfüllten Programme veröffentl­icht haben. Es zeigt sich, dass die auf ziemlich dünnem Eis daherkomme­n. Die steuerpoli­tischen Vorstellun­gen von ÖVP und FPÖ – da halten die angebotene­n Zahlen, vor allem bei der Finanzieru­ng, einer strengen Prüfung nicht stand. Das ist eher fiskalisch­es Kauderwels­ch.

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Trotzdem hat Sebastian Kurz einen guten Lauf, auch weil er Veränderun­g ankündigt, ohne radikal zu wirken. Wie schätzen Sie ihn ein? Vranitzky:

Er hat bisher in erster Linie über das Flüchtling­sthema gesprochen, und als Außenminis­ter hat er etliche Gegenüber, z. B. die Deutschen, wissen lassen, dass sie vieles falsch machen und er es richtig sieht. Wenn es darum geht, wer der nächste Regierungs­chef sein soll, dann müsste man ja die Erwartunge­n an den Kandidaten Kurz viel höher schrauben. Er brilliert im Boulevard, aber wenn man Fragen stellt, was die Digitalisi­erung für die Leistungsf­ähigkeit der Industrie bedeuten wird, für die Arbeitsplä­tze, wenn man nach Sicherheit der Pensionen und der Gesundheit­sversorgun­g fragt, sind bisher noch keine Antworten gekommen. Ich sehe da für einen Regierungs­chef keine ausreichen­de Substanz.

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Apropos Boulevard: Sie schreiben in Ihrem Buch, Kreisky habe die „Krone“groß gemacht, indem er sie mit Informatio­nen gefüttert habe. Spätere Kanzler haben den Boulevard auch gefüttert, aber mit Inseratenm­illionen (ohne dass es etwas gebracht hätte). Wie stehen Sie dazu? Vranitzky: Standard: Vranitzky:

Standard: Vranitzky: Kritisch.

Sie schreiben, dass die SPÖ heute kein klares Zielpublik­um mehr hat. Aus Arbeitern wurden Kleinbürge­r, und die wählen jetzt FPÖ.

Die Sozialdemo­kratie in ganz Europa ist mit einem erhebliche­n gesellscha­ftlichen Wandel konfrontie­rt. Es ist offensicht­lich nicht gelungen, da zu reagieren. Die sozialdemo­kratische Idee ist ja nicht gestorben – sozialer Ausgleich, soziale Sicherheit, das gilt ja unbestritt­en. Aber der Bürger muss sich in der Politik wiederfind­en, und da ist noch einiges zu tun. Kern hat das Potenzial dazu.

Aber er steht ziemlich allein in der SPÖ.

Ich bin da nicht so pessimisti­sch. Aber man darf nicht vergessen, er ist ja eigentlich ein Newcomer. Und so viel Zeit hat er noch nicht gehabt, um die Partei zu reformiere­n, um die Regierungs­arbeit mit einem komplizier­ter gewordenen Partner zu optimieren. Der Zeitfaktor spielt sicher eine Rolle.

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Gebt Kern mehr Zeit, selbst wenn er in die Opposition gehen muss? Vranitzky:

Ich will mich mit der Opposition­srolle nicht beschäftig­en. Aber egal ob Opposition oder nicht, um die Arbeit an sich selbst wird die Partei nicht herumkomme­n.

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Kern hat gesagt, dass er, wenn die SPÖ nicht Erster wird, in Opposition geht – wobei die Frage ist, ob die Partei ihn dann noch lässt. Damit hat er andere Varianten ausgeschlo­ssen – Juniorpart­ner mit der ÖVP. Was halten Sie davon? Vranitzky:

Diese Diskussion­en führen zu nichts. In dieser nicht enden wollenden Koalitions­debatte wird die Aufmerksam­keit der Wähler zu einseitig in Anspruch genommen.

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Sie sind der Erfinder und Praktikant der Abgrenzung zur FPÖ. Gilt das noch? Ist Rot-Blau möglich? Vranitzky:

Zunächst hat sich die Partei entschiede­n, durch den Parteitags­beschluss eine solche Koalition auszuschli­eßen. Auf Landeseben­e gibt es schon Koalitione­n mit der FPÖ. Das ist der Status quo, und ich sehe keinen Grund, davon abzugehen.

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Stichwort sozialer Ausgleich: Sie sagen in Ihrem Buch, Österreich habe zu wenige Reiche für eine Umverteilu­ng. Das ist eigentlich gegen den Slogan „Holt euch, was euch zusteht“. Vranitzky:

Nein. Ich interpreti­ere das ja nicht im Abholen irgendwelc­her Geldbeträg­e, sondern „was euch zusteht“ist das Angebot, das der Staat macht. Das ist Bildung, das ist Gesundheit, soziale Sicherheit. Ich füge aber hinzu, dass die nächste politische Periode dem große Aufmerksam­keit zuwenden muss. Ich bin z. B. mit dem Universitä­tssystem höchst unzufriede­n.

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Kehren wir noch einmal zum großen Thema Wiedergewi­nnung des Respekts in Zeiten verschärft­er Auseinande­rsetzung zurück. Viele Menschen sind ja mit dem „System“unzufriede­n. Da heißt es dann, gerade von Rechtspopu­listen: „mehr direkte Demokratie“, mehr Volksabsti­mmungen. Vranitzky:

Mit dem Instrument „direkte Demokratie“sollte man sehr vorsichtig und zurückhalt­end umgehen, weil die Gefahr sehr groß ist, dass Fragen beantworte­t werden, die gar nicht gestellt wurden. Und weil dieses Instrument einer schrankenl­osen Demagogie Tür und Tor öffnet, weil komplexe Zusammenhä­nge mit Ja oder Nein beantworte­t werden müssen, ohne dass sich der Bürger ein klares Bild machen kann.

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Direkte Demokratie, Rechtspopu­lismus, Anti-ElitenStim­mung – der sogenannte einfache Mann rebelliert gegen die Eliten und wählt dann neue Eliten wie Herrn Trump, der sicher nicht den Interessen des kleinen Mannes entspricht. Sind die Leut’ deppert?

(lange Pause) Vranitzky:

Also jeder denkende Mensch verwahrt sich dagegen, die Bevölkerun­g als dumm zu bezeichnen. Aber das Gespür der Menschen kann missbrauch­t werden. Ich komme zu meinem Credo zurück: Der seriöse Politiker muss die Leute überzeugen – dass das für sie Sinn hat.

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Politiker, die miteinande­r respektvol­l umgehen, steigen am Ende besser aus? Vranitzky:

Ich bin überzeugt davon. Die Anfeindung­en, die Untergriff­e, die Beschimpfu­ngen setzen das Ansehen der Politik herab. Auf Aggression folgt Gegenaggre­ssion. Am Schluss gibt die Bevölkerun­g dann nicht dem die Schuld, der das ausgelöst hat, sondern allen.

FRANZ VRANITZKY,

1937 in Wien geboren, arbeitete zunächst in der Nationalba­nk, war Mitarbeite­r von Finanzmini­ster Androsch, dann im Vorstand der Creditanst­alt und Chef der Länderbank, 1984 Finanzmini­ster, 1986 bis 1997 Bundeskanz­ler und SPÖ-Vorsitzend­er, ist seither u. a. Präsident des Kreisky-Forums.

 ??  ?? „Zurück zum Respekt. Überleben in einer chaotische­n Welt“. Aufgezeich­net von Peter Pelinka. € 19,95 / 160 Seiten. Edition a, Wien 2017
„Zurück zum Respekt. Überleben in einer chaotische­n Welt“. Aufgezeich­net von Peter Pelinka. € 19,95 / 160 Seiten. Edition a, Wien 2017

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