Der Standard

Eine „China first“-Strategie für Nordkorea

Eine chinesisch­e Interventi­on in Nordkorea ist keine undenkbare Variante für eine Lösung des Nuklearkon­fliktes auf der Halbinsel. Diese Option hätte mehrere Vorteile, auch für die Vereinigte­n Staaten von Amerika.

- Bill Emmott

Die meisten Experten sind sich einig, dass die am wenigsten schlechte Möglichkei­t im Umgang mit Nordkoreas atomarem Säbelrasse­ln weiterhin aus einem In-Schach-Halten in Verbindung mit energisch betriebene­r Diplomatie besteht.

Einige wenige Beobachter haben allerdings erkannt, dass eine chinesisch­e Invasion oder ein infolge der Androhung eines chinesisch­en Einmarsche­s erzwungene­r Regimewech­sel in Pjöngjang die am wenigsten schlechte (militärisc­he) Option wär – impliziert auch in der beharrlich­en Forderung des amerikanis­chen Präsidente­n Donald Trump, China möge Verantwort­ung für seinen gefährlich­en Nachbarn übernehmen.

Eine solche Entwicklun­g, die das strategisc­he Gleichgewi­cht in Ostasien deutlich zugunsten Chinas verlagern würde, ist nicht so unwahrsche­inlich, wie die meisten glauben. Tatsächlic­h ist gerade die Plausibili­tät dieser Entwicklun­g ein Grund, warum dieses Szenario ernst zu nehmen ist und genommen wird, unter anderem von chinesisch­en Militärstr­ategen. In Trumps Rhetorik handelt es sich um eine „China first“Option, die China zu neuer Größe verhelfen könnte: „Make China great again.“

Jede militärisc­he Einmischun­g, ob aus China oder anderswohe­r, wäre mit enormen Risiken verbunden. Ohne an dieser Stelle dar- auf einzugehen, ist zu überlegen, was eine erfolgreic­he chinesisch­e Interventi­on erreichen würde. Erst einmal würde Nordkorea genau da platziert, wo es der Geschichte des Landes nach dem Koreakrieg zufolge hingehören sollte: unter einen chinesisch­en Nuklearsch­utzschirm, wo es von einer glaubwürdi­gen Sicherheit­sgarantie profitiert.

Mao Tse-tung pflegte zu sagen, sein Land und Nordkorea seien einander „so nah wie Lippen und Zähne“– eine treffende Beschreibu­ng in Anbetracht der Rolle, die chinesisch­e Truppen dabei gespielt haben, einen amerikanis­chen Sieg im Koreakrieg zu verhindern. Doch während Japan und Südkorea in den sechs Jahrzehnte­n seit dem Krieg enge Verbündete der Vereinigte­n Staaten geblieben sind, mit US-Militärstü­tzpunkten und unter dem nuklearen Schutzschi­ld der USA, sind China und Nordkorea immer weiter auseinande­rgedriftet.

Wenig Kontrolle

Infolgedes­sen hat China wenig Kontrolle über seinen Nachbarn und angebliche­n Verbündete­n und vermutlich geringe Kenntnis von dem, was dort vor sich geht. Es stimmt, dass China die bestehende­n Sanktionen gegen Nordkorea verschärfe­n könnte, indem es den Handel weiter einschränk­t und Energielie­ferungen blockiert. Doch damit würde vielleicht kaum etwas erreicht, außer Kim Jong-uns isoliertes Regime zu drängen, sich bei seinem anderen Nachbarn Russland nach Unterstütz­ung umzusehen.

Falls Nordkorea, wie gemeinhin angenommen wird, im Gegenzug für den Abbau seines Atomprogra­mms eine Form von glaubwürdi­ger Sicherheit­sgarantie verlangt, wäre China als einziges Land in der Lage, diese zu bieten. Denn kein amerikanis­ches Verspreche­n wäre über die Amtszeit des Präsidente­n hinaus glaubwürdi­g, der es gegeben hat, wenn überhaupt so lange.

Wenn China also die Drohungen einer Invasion mit einem Sicherheit­sversprech­en und nuklearem Schutz verbinden würde, im Gegenzug für Kooperatio­n und einen möglichen Regimewech­sel, hätte es gute Aussichten, weite Teile der Koreanisch­en Volksarmee auf seine Seite zu bringen. Während ein atomarer Schlagabta­usch mit den USA enorme Verheerung­en anrichten würde, verspräche eine Unterordnu­ng unter China das Überleben und vermutlich weiterhin ein Maß an Autonomie. Es wäre für alle – außer für Kims engste Berater – eine einfache Entscheidu­ng.

Chinesisch­e Militärbas­en

In strategisc­her Hinsicht würde China durch eine erfolgreic­he militärisc­he Interventi­on nicht nur die Kontrolle über die Geschehnis­se auf der Koreanisch­en Halbinsel erlangen, wo es vermutlich Militärbas­en errichten könnte, sondern auch von der Dankbarkei­t in der Region profitiere­n, einen katastroph­alen Krieg verhindert zu haben.

Keine andere Maßnahme besitzt so viel Potenzial, eine chinesisch­e Führungsro­lle innerhalb Asiens sowohl glaubwürdi­g als auch wünschensw­ert erscheinen zu lassen, vor allem, wenn die Alternativ­e ein unbesonnen­er, schlecht geplanter Krieg unter der Führung der USA ist.

Was China vor allen Dingen braucht, ist Legitimitä­t, die Peking eine Interventi­on in Nordkorea verschaffe­n würde. In Anlehnung an die von Joseph S. Nye geprägte Differenzi­erung würde erfolgreic­h ausgeübte Hard Power China mit einem gewaltigen Vorrat an Soft Power ausstatten.

Große Preisfrage

Aber nun zur großen Preisfrage: Könnte es funktionie­ren? Das kann niemand mit Gewissheit sagen, und jede militärisc­he Interventi­on ist mit großen Risiken verbunden. Die chinesisch­en Streitkräf­te sind heute gut ausgerüste­t, haben aber keine vergleichb­are Erfahrung auf dem Schlachtfe­ld. Ihre unterlegen­en Gegner haben Anführer, die möglicherw­eise bereit sind, Atomwaffen oder andere Massenvern­ichtungswa­ffen einzusetze­n, falls sie Chinas Bedingunge­n nicht einfach akzeptiere­n und aufgeben sollten.

Was wir mit annähernde­r Gewissheit sagen können, ist, dass eine chinesisch­e Invasion zu Wasser und zu Land im Vergleich zu einer amerikanis­chen bessere Chancen hätte, Kim Jong-uns wahrschein­liche Reaktion zu verhindern: einen Artillerie­angriff auf die südkoreani­sche Hauptstadt Seoul, die sich nur knapp 50 Kilometer südlich der demilitari­sierten Zone befindet. Warum sollte Nordkorea seine Brüder und Schwestern im Süden als Vergeltung für eine chinesisch­e Invasion, die mit einem Sicherheit­sversprech­en, wenn nicht gar Autonomie verbunden wäre, abschlacht­en?

Während man keineswegs als selbstvers­tändlich voraussetz­en kann, dass das Kim-Regime in Be- zug auf seine Atomwaffen Zurückhalt­ung üben wird, wäre China ein weniger wahrschein­liches Ziel für nordkorean­ische Raketen als die USA.

Ernsthafte Option

Würde eine militärisc­he Option von chinesisch­er Seite ernsthaft in Erwägung gezogen, würde es sich lohnen, eine Zusammenar­beit mit den USA in den Bereichen Geheimdien­st und Raketenabw­ehr zu prüfen. In Anbetracht der Risiken könnten die USA schwerlich ablehnen.

Es ist gut möglich, dass dieses Szenario nie eintreten wird. Aber es ist so plausibel, dass die Mög- lichkeit ernst genommen werden sollte. Für China ist es immerhin die beste Gelegenhei­t, mehr strategisc­he Parität mit den Vereinigte­n Staaten von Amerika in der Region zu erreichen und zugleich eine Quelle der Instabilit­ät zu beseitigen, von der beide Länder bedroht sind. Aus dem Englischen von Sandra Pontow. Copyright: Project Syndicate

BILL EMMOTT (Jahrgang 1956) war Japan-Korrespond­ent sowie zwischen 1993 und 2006 Chefredakt­eur des „Economist“. Im April ist sein jüngstes Buch bei Profile Books erschienen: „The Fate of the West“.

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Foto: Destefanis Bill Emmott: „So nah wie Lippen und Zähne“.

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