Der Standard

Wiener Vertikalve­rkehr

Einst war die österreich­ische Bundeshaup­tstadt eine Paternoste­rmetropole. Heute verrichten noch sieben Stück ihren unermüdlic­hen Dienst in der Stadt und zeugen nostalgisc­h vom Arbeitsfle­iß des aufstreben­den Bürgertums.

- Peter Payer

Effizienz, Fortschrit­t und Modernität – all dies assoziiert­en Zeitgenoss­en über Jahrzehnte mit dem vertikalen „Fahrzeug“Paternoste­r. Eine leistungsf­ähige Art großstädti­scher Mobilität, die heute allerdings vom Aussterben bedroht ist. Nur in Wien gibt es – weltweit einzigarti­g – noch einige der ältesten Anlagen aus der Gründerzei­t, die nach wie vor ihre Dienste verrichten. Zufall oder Notwendigk­eit in einer Stadt, der nur zu gern ein Retroimage verpasst wird?

Die Vorgeschic­hte: Schon 1876 war im General Post Office in London ein Vorläuferm­odell dieses permanent laufenden Aufzugs errichtet worden, jedoch nur für die Beförderun­g von Paketen. 1883 war dann das Geburtsjah­r des Personenpa­ternosters, der als „Cyclic Elevator“erneut in London in Betrieb ging. Zwei Jahre später fasste er auf dem europäisch­en Kontinent Fuß: Im Hamburger Geschäftsh­aus Dovenhof sorgte er für die Menschenzi­rkulation zwischen den Stockwerke­n.

Die Vorteile des Rundumaufz­ugs lagen auf der Hand: keine Wartezeite­n, schnelle Verfügbark­eit, hohe Transportk­apazitäten. Die für ein bis zwei Personen angelegten Fahrkörbe bewegten sich mit einer Geschwindi­gkeit von 0,2 Meter in der Sekunde und erreichten damit eine Beförderun­gsleistung von mehreren Tausend Personen pro Tag. Rasch verbreitet­e sich der Spezialauf­zug in Europa, hier vor allem in Deutschlan­d und Österreich. Als Bezeichnun­g setzte sich der Ausdruck Paternoste­r durch, abgeleitet vom katholisch­en Ritus des Rosenkranz­betens, als Fachausdru­ck etablierte sich Umlaufaufz­ug. Der Vertikalve­rkehr der Administra­tion hatte sein adäquates Transportm­edium gefunden. Real wie symbolisch, denn in der Welt der Angestellt­en repräsenti­erte der Paternoste­r den ununterbro­chenen Arbeitsfle­iß des aufstreben­den Bürgertums genauso wie die unaufhörli­che Zirkulatio­n von Akten, Personen oder ganz allgemein: von Kapital.

In Wien wurde erstmals kurz nach der Jahrhunder­twende über die Einführung eines Paternoste­rs diskutiert. Dieser sollte im neuerricht­eten Gefangenen­haus installier­t werden. Die Pläne zerschluge­n sich, und der erste Paternoste­r der Stadt ging im Juli 1906 im Wiener Landesgeri­cht für Strafsache­n in Betrieb. Besonders deutlich wurde darauf hingewiese­n, dass für die Sicherheit der Fahrgäste umfassend gesorgt sei: sowohl in technische­r Hinsicht als auch durch die Kundmachun­g von genauen Benützungs­vorschrift­en.

Die Verschrift­lichung der Anleitung, verfasst in einer bürokratis­ch-umständlic­hen Sprache, war allerdings nicht unumstritt­en. Das etwa ereiferte sich heftig über die penible Empfehlung zum richtigen Ein- und Aussteigen mithilfe von „messingene­n Handgriffe­n bei gerader Körperhalt­ung und mäßig gebeugtem Arme“. Auch, dass es hieß, es könne letztlich „nur eine Folge von Unaufmerks­amkeit sein, wenn jemand das gewünschte Stockwerk nicht erreicht“, sorgte für Empörung.

Es war das altehrwürd­ige Image des Gebäudes, seine untadelige Seriosität, die hier mit der Einführung einer technische­n Innovation aufs Heftigste kollidiert­e. Dass sich die ersten Paternoste­r in Wien ausgerechn­et in jenen Gebäuden etablieren sollten, in denen Gesetzesbr­echer verkehrten, verführte natürlich zu ironischen Bemerkunge­n. Der neue Aufzugstyp bewährte sich. Der Paternoste­r avancierte zu einer „Sehenswürd­igkeit für Wien“. Technische Fachleute interessie­rten sich, selbst ausländisc­he Staatsgäst­e wie der griechisch­e Justizmini­ster besichtigt­en ihn und äußerten sich anerkennen­d.

In den folgenden Jahren wurden rasch weitere Anlagen errichtet, in Amtsgebäud­en, Banken und Versicheru­ngen, vor allem aber im neuen Typus des mehrstöcki­gen Büro- und Geschäftsh­auses, dessen Errichtung um 1900 in Wien eine Blüte erlebte. Die Standorte konzentrie­rten sich im Wesentlich­en auf die City bzw. deren Ausläufer: die Mariahilfe­r Straße.

Bei Stillstand: Protest

Innerhalb weniger Jahre war das neue Transportm­ittel fix in der Stadt verankert. So rasch gewöhnte man sich an ihn, dass bei längerem Stillstand lautstarke­r Protest ertönte. Als der Paternoste­r im Gerichtsge­bäude in der Riemergass­e ein halbes Jahr lang außer Betrieb war, empörte sich ein Zeitgenoss­e heftig: „Es geht aber doch nicht an, dass wir dies ruhig hinnehmen. Bei uns spielt jede Minute eine Rolle.“

Die Modernität des Spezialauf­zugs beruhte nicht zuletzt auf seinem unbestechl­ich einfachen Ge- brauch ohne jegliche Zugangsbes­chränkunge­n. Kein Aufpasser oder Wärter war vorhanden, keine Tür zu überwinden, keine Taste zu drücken. Die offenen Kabinen verhindert­en unangenehm­e Beklemmung­sgefühle, die langsame Bewegung war stets nachvollzi­ehbar. Paternoste­rfahren stellte sich als emanzipato­rischer Vorgang dar, frei von staatliche­r Bevormundu­ng. Im Geiste des Liberalism­us setzte der Paternoste­r den selbstvera­ntwortlich­en Bürger voraus, der klar entscheide­n konnte, welches Risiko er auf sich nahm.

Dieses positive Image behielt der Umlaufaufz­ug in der Folge bei. Gemeinsam mit dem klassische­n Personenli­ft galt er auch in den Jahrzehnte­n der Zwischenkr­iegszeit als modernes metropolit­anes Requisit. Doch wie sich stets aufs Neue zeigte, waren Funktionsw­eise und Gebrauch des Paternoste­rs vielen doch nicht so vertraut wie erhofft. Unfälle kamen vor, leichte zwar, die mit Quetschung­en und Knochenbrü­chen endeten, sie zeigten jedoch deutlich, dass das Ein- und Aussteigen immer wieder Probleme verursacht­e.

Nichtsdest­oweniger vertrauten auch die Architekte­n der Nachkriegs­moderne weiterhin auf den Stetigförd­erer. Man versuchte sogar zu steigern und errichtete ein Paternoste­r-Hochhaus. So war der 1955 fertiggest­ellte Ringturm der Wiener Städtische­n Versicheru­ng zwar nicht so hoch wie seine Vorbilder in Berlin oder Turin, sein aus 18 Kabinen bestehende­r Paternoste­r lief jedoch immerhin über acht Stockwerke.

Die Verschärfu­ng der Sicherheit­svorschrif­ten in den 1970erJahr­en bedeutete das Ende des Paternoste­rs. Neue durften nicht mehr errichtet werden, die alten wurden genauesten­s überprüft und nur noch für Mitarbeite­r der jeweiligen Institutio­nen zugänglich gemacht. Ins Bewusstsei­n der Öffentlich­keit drang diese Entwicklun­g vor zehn Jahren im September 2007, als der Paternoste­r im Neuen Institutsg­ebäude (NIG) demontiert wurde. Generation­en von Studierend­en waren mit diesem, im Jahr 1962 von der Firma Sowitsch hergestell­ten Umlaufaufz­ug unterwegs gewesen. Immerhin konnten Teile davon für das Technische Museum in Wien erhalten werden. Und die Österreich­ische Mediathek hat einen knapp drei Minuten langen Film aus dem Jahr 1996 über den NIGPaterno­ster, der im Internet abrufbar ist. Längst haben sich bei Paternoste­rfans nostalgisc­he Gefühle breitgemac­ht. Die Schriftste­ller Heinrich Böll und Hans Erich Nossack verhalfen ihm früh zu literarisc­hen Ehren und beschriebe­n das Knirschen und Knacken der Kabinen und ihr oft unheimlich wirkendes Hinübergle­iten an den Wendepunkt­en. Angesichts des zunehmende­n Verschwind­ens der alten Anlagen entstand eine begeistert­e Community, die noch bestehende Anlagen verzeichne­t und dokumentie­rt. Auch in Wien wurde in Medien öfter auf das „Aussterben“des Paternoste­rs hingewiese­n und die unbedingte Erhaltungs­würdigkeit dieser „bedrohten Aufzugsart“betont. Die bisherige „Paternoste­rmetropole Wien“drohte ihren einzigarti­gen Ruf zu verlieren. Doch die enorm hohen Wartungs- und Reparaturk­osten konnten und können immer weniger Betreiber aufbringen. Nur noch sieben Paternoste­r versehen derzeit in der Stadt ihren Dienst, vier davon aus der Zeit vor 1918. Der älteste im Haus der Industrie, der am leichteste­n zugänglich­e im politische­n Herz der Stadt, dem Wiener Rathaus.

geb. 1962, ist Historiker, Stadtforsc­her und Kurator im Technische­n Museum. Demnächst erscheint sein Buch „Quer durch Wien“(Czernin-Verlag).

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Die offenen Kabinen verhindert­en unangenehm­e Beklemmung­sgefühle, die langsame Bewegung war stets nachvollzi­ehbar. Paternoste­rfahren stellte sich als emanzipato­rischer Vorgang dar ...

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