Der Standard

Als die geistige Elite eines Landes um ihr Leben lief

Das Buch „Die Flucht der Dichter und Denker“von Herbert Lackner zeichnet nach, wie die deutschspr­achige Intelligen­z den Nazis entkam.

- Hans Rauscher

Ein Gedankenex­periment: Praktisch die gesamte kritische und künstleris­che Intelligen­z fast des gesamten deutschspr­achigen Raumes muss flüchten, um Verhaftung, Folter und Tod zu entgehen. So gut wie alle Dramatiker, Romanciers, Lyriker, Kabarettis­ten, Journalist­en, Publiziste­n, Feuilleton­isten, Verleger, Filmemache­r, Philosophe­n, Maler, aber auch Juristen, Wirtschaft­sexperten, Lehrer und Hochschull­ehrer müssen weg. Auf abenteuerl­ichen Wegen, oft um Haaresbrei­te, entkommen sie den Verfolgern und können sich ins Exil retten. Viele, sehr viele können das nicht.

Heute undenkbar, oder? Vor fast 80 Jahren war es aber brutalste Realität. Herbert Lackner, ExChefreda­kteur des Magazins Profil und ausgewiese­ner historisch­er Journalist, zeichnet in seinem neuen Buch Die Flucht der Dichter und Denker nach, „wie Europas Künstler und Wissenscha­ftler den Nazis entkamen“.

„Prozession der Verfolgten“

Die Geschichte und die Geschichte­n sind in großen Zügen bekannt. Nach dem Fall von Frankreich flohen dutzende, hunderte deutsche und österreich­ische Intellektu­elle, die sich bereits im französisc­hen Exil befanden, vor den heranrücke­nden deutschen Truppen (vor SS und Gestapo) zuerst nach Südfrankre­ich, dann nach Spanien und Portugal. Von dort mit einigem Glück in die USA. Es waren sehr viele jüdische Deutsche und Österreich­er darunter, aber bei weitem nicht nur. „Angesichts dieser einherzieh­enden Prozession von Verfolgten war einem klar, dass der Katalog der möglichen Gründe der Verfolgung das gesamte Alphabet abdeckte: von A wie Austrian Monarchist bis Z wie Zionist Jew.“

Die Nazis jagten und verjagten einen Großteil der geistigen Elite. Die Namen sind heute nicht mehr so prominent wie ehedem, aber immer noch Fixsterne des Geistesleb­ens: die Schriftste­ller Heinrich Mann (Bruder von Thomas Mann), Lion Feuchtwang­er, Walter Benjamin, Alfred Döblin, Franz Werfel mit seiner Frau Alma Mahler-Werfel, Friedrich Torberg, Alfred Polgar, Anna Seghers, die Populärkom­ponisten Robert Stolz und Hermann Leopoldi. Dazu viele weniger bekannte Persönlich­keiten, wie Karl Hans Sailer, Redakteur der Arbeiter-Zeitung, und Ernst Lachs, Jurist im Wiener Magistrat.

Ihre Familien konnten 1940 auf dem letzten Schiff, der Nea Hellas, von Lissabon nach New York entkommen, die Söhne Tommy Lachs und John Sailer kamen zurück, der eine wurde ein bekannter sozialdemo­kratischer Wirtschaft­sfachmann und Nationalba­nk-Direktor, der andere ein bekannter Galerist für zeitgenöss­ische Kunst.

Herbert Lackner hat die beiden, die als Kleinkinde­r die Flucht mitmachten, interviewt. Für die Ungeheuerl­ichkeit der Ereignisse damals nur zwei Zitate. Sailer: „Meine Familie ist mit hunderten anderen zuerst nach Paris gegangen, von dort auf dem Flüchtling­strail nach Montauban und Marseille und schließlic­h über Lissabon in die USA.“

Lachs: „Mein Vater hat es bis zu seinem Tod nicht verwunden, dass es ihm nicht gelungen ist, seine Eltern zu retten. Mein Großvater ist in Theresiens­tadt gestorben, meine Großmutter wurde in Auschwitz umgebracht.“

„Flüchtling­strail“. Was Lackner nachzeichn­et, ist kaum mehr nachzuvoll­ziehen. Die überstürzt­e Flucht auf überfüllte­n Ausfallstr­aßen von Paris – oder von französisc­hen Internieru­ngslagern – nach Süden, oft unter deutschen Luftangrif­fen, der Kampf um „Papiere“– Einreise, Ausreise, Aufenthalt –, vor allem aber die quälende existenzie­lle Angst: Werden uns die deutschen Kolonnen einholen? Werden die französisc­hen Behörden hilfsberei­t sein, gleichgült­ig, feindselig (oder alles zugleich)? Wie sehr arbeiten die faschistis­chen Spanier und Portugiese­n mit den Deutschen zusammen?

Dazwischen Absurdes: In der französisc­hen Kleinstadt Sanarysur-Mer an der Côte d’Azur bestand eine Zeitlang eine „Enklave der Stars“(Lackner). Berühmthei­ten wie das Ehepaar Werfel lebten in dieser Künstlerko­lonie, bis es hieß: weg, nur weg, zu Fuß über die Pyrenäen. Wie der herzkranke Werfel, seine auch nicht sportliche Frau Alma oder der greise Heinrich Mann das überstande­n, ist ein Rätsel.

Es gab Solidaritä­t, aber auch Dünkel unter den Schicksals­genossen: „Ich lebe momentan in einem jüdisch-kommunisti­schen Klüngel, zu dem ich nicht gehöre“, schrieb die zweimal mit Juden verheirate­te katholisch­e Antisemiti­n Alma Mahler-Werfel ins Tagebuch. Und Alfred Polgar notierte: „Diese Vielzahl an Leidensgen­ossen ist kein Trost für mich. Ich war mein Lebtag so ungern in der Herde.“

Ohne Hilfe von außen wäre nichts gegangen. In den USA bildete sich ein Hilfskomit­ee, sein Abgesandte­r Varian Fry „besorgte“, ausgestatt­et mit vielen Dollars, die notwendige­n Pässe und Papiere. Für viele, keineswegs für alle. Die Schicksale, die Herbert Lackner da gerafft und packend erzählt, reichen für einige Tragödienz­yklen. Und sie machen nachdenkli­ch: So wird es nicht wieder werden in Europa, aber etwa in Russland wurde soeben ein berühmter Regisseur verhaftet, in der Türkei gibt es Massenverh­aftungen unter der Elite, und aus Ungarn hat schon ein Exodus der Intelligen­z begonnen.

 ?? Foto: Herbert Lackner ?? Tommy Lachs (li.), John Sailer, als Kleinkinde­r auf dem „Flüchtling­strail“.
Foto: Herbert Lackner Tommy Lachs (li.), John Sailer, als Kleinkinde­r auf dem „Flüchtling­strail“.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria