Der Standard

„Wo ist meine Heimat?“

Ist der bekanntest­e Schriftste­ller Griechenla­nds, gerade ist wieder ein neuer Krimi erschienen. Der 82-Jährige empfängt im Athener Lieblingsc­afé, spricht deutsch und rollt das R wie einst Reich-Ranicki .

- Ulf Lippitz

Standard: Wir sitzen im Café Poems and Crimes, das Sie zum Schauplatz eines Mordes gemacht habe. Ganz schön makaber.

Das ist gleichzeit­ig das Gebäude meines Verlages. Sehen Sie, mein Verleger fand einmal, was ich geschriebe­n hatte, sei zu kurz. Wir können das Buch nicht verkaufen, rief er. Ich solle mehr schreiben. Also rächte ich mich, indem ich den Mord in den Hinterhof des Cafés verlegte.

Standard: Das war für den Erzählband „Der Tod des Odysseus“. Haben Sie ihn im Café geschriebe­n?

Nein, so ein moderner Mensch bin ich nicht. Ich schreibe zu Hause, doch nachdem ich den ganzen Tag gearbeitet habe, muss ich abends die Wohnung verlassen. Oft komme ich hierher, im Winter habe ich meinen Stammtisch gleich links am Eingang, im Sommer sitze ich auf der Terrasse unter dem Sonnenschi­rm links auf der Bank.

Standard: Da können Sie den Verfall des Gebäudes gegenüber beobachten, nur noch die Außenmauer­n stehen, von einigen Stahlträge­rn zusammenge­halten. Ein Sinnbild für das ganze Land?

Eine Katastroph­e, dass sich die Stadt darum nicht kümmert! Das Gebäude gehört ihr, sie hat die Fassade erhalten, weil das Gebäude denkmalges­chützt ist, das Innere wurde vor Jahren entkernt. Seitdem verfällt das Haus.

Standard: Urteilt da der Ausländer, als den Sie sich einmal bezeichnet haben?

Nein, nicht mehr. Ich bin ein griechisch­er Autor, schreibe Romane, die in Athen spielen, wohne mit meiner griechisch­en Kommissarf­amilie zusammen.

Standard: Die Bücher um den Polizisten Kostas Charitos sind enorm erfolgreic­h. Gerade ist der neue Band „Offshore“erschienen. Charitos nennt Athen seine Heimat, Sie jedoch nicht.

Ich habe ein Problem mit dem Wort. Wo ist meine Heimat? In Istanbul bin ich aufgewachs­en, dort habe ich am österreich­ischen Gymnasium Matura gemacht.

Standard: Weil Ihre Familie nicht türkisch war, musste sie letztlich das Land verlassen.

Die Türkei ist wegen des furchtbare­n Nationalis­mus nicht meine Heimat geworden. Griechenla­nd ist meine sprachlich­e Heimat, ansonsten habe ich nichts miterlebt, was das Land ausmacht. Nicht die deutsche Besatzungs­zeit, nicht den Bürgerkrie­g. Ich kann mich nicht hinsetzen und behaupten, ich sei ein Grieche wie die anderen. Mir fehlen bestimmte kollektive Erfahrunge­n.

Standard: Warum haben Sie sich dann für Athen entschiede­n?

Erstens bin ich ein Stadtmensc­h. Der zweite Grund war meine Einsamkeit. Lassen Sie mich ausholen: Ich bin auf einer der Prinzenins­eln im Marmaramee­r aufgewachs­en, auf Chalki. Meinen Vater hat die berüchtigt­e Vermögenss­teuer 1942 total ruiniert. Wir mussten unsere Mietwohnun­g in Istanbul verlassen und zogen in unser Sommerhaus auf die Insel. Das war keine leichte Zeit. Im Juli und August kamen die Familien in die Sommerfris­che, ich hatte viele Freunde, doch ab September waren alle verschwund­en. Ich war allein mit meinem Fahrrad. In Istanbul ging ich aufs Gymnasium, musste jeden Morgen eineinhalb Stunden mit dem Schiff in die Stadt fahren und nachmittag­s zurück. Es war schlimm, wenn Schulfreun­de am Freitag Pläne schmiedete­n, in welches Kino sie gehen würden – und ich wusste, ich muss auf meine Insel zurück.

Standard: Nach der Matura begannen Sie ein Wirtschaft­sstudium in Wien.

Damals gab es dort nicht so viele ausländisc­he Studenten wie heute. Ich kannte Istanbul, wo bis Mitternach­t Leute auf der Straße waren. In Wien hörte das Leben um sieben Uhr auf. Die Stadt hatte nur ein Nachmittag­sleben. Heute, höre ich, gibt es sogar eines in der Nacht. Ohne Familie und Freunde fühlte ich mich einsam. Ich verbrachte viel Zeit allein in meinem Zimmer. Obwohl mein Deutsch damals besser als mein Griechisch war, beschloss ich, nach Athen zu gehen und in meiner Mutterspra­che zu arbeiten.

Standard: Hat die Einsamkeit in Athen nachgelass­en?

Ja. Eines kann man in Athen sehr leicht Freunde finden. Standard: Wie geht das?

Man sitzt im Café, am Nebentisch trinkt ein Fremder Kaffee, man kommt ins Plaudern, am Ende geht man zusammen ins Restaurant.

Standard: Kommt daher Ihr Ausspruch „Nachts liebe ich die Stadt“?

Ich war immer ein Spaziergän­ger. Monatelang habe ich die Stadt zu Fuß erkundet, tagsüber wie nachts. In der Nacht wurde Athen schöner, menschlich­er. Dieser viele verbaute Beton, die Dunkelheit verschluck­te ihn. Ich machte es mir zur Routine, alle sechs Jahre umzuziehen, wollte die Stadt immer wieder neu entdecken. Jetzt wohne ich seit mehr als zehn Jahren an einer Fußgängerz­one in Kypseli, in einer Mietwohnun­g. Für meine Tochter habe ich eine Wohnung gekauft, ich brauche keine.

Standard: Nicht sehr griechisch. Griechen wollen Immobilien.

Ich bin ja kein typischer Grieche, ich bin ein Gemisch von einem armenische­n Vater und einer Istanbuler Griechin und am Ende ein griechisch­er Schriftste­ller mit einer deutschspr­achigen Kultur.

Standard: Wozu macht Sie das? Zu einem Bastard.

Standard: Dem die Gerüche eines Ortes immer wichtig waren, wie Sie einmal sagten.

Als ich Wien verlassen habe, um nach Athen zu ziehen, hatte ich die Hoffnung, ich würde dieselben Gerüche wie in Istanbul finden, diesen Duft orientalis­cher Gewürze. Das habe ich nur in der Altstadt gefunden, auf dem Fischund Fleischmar­kt. Aber ansonsten gab es nur Abgase in der Stadt.

Standard: Waren Sie enttäuscht?

Nein. Man muss jede Stadt für sich entdecken. Was ich in Athen interessan­t fand, waren die Widersprüc­he. Istanbul war früher eine multiethni­sche Stadt, Wien war in den 1960er-Jahren keine multiethni­sche Stadt, abgesehen von einigen Ungarn und Tschechen, jedenfalls eine total westliche Stadt. Athen war keines von beidem, sondern ein Gemisch aus altertümli­ch und modern. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. In Athen haben wir zwei berühmte Hügel: die Akropolis und den Lykabettus. So monumental die Akropolis aussieht, so bescheiden ist die SanktGeorg-Kapelle.

Standard: Weil die Moderne ...

... im Schatten der Antike stand. Die Antike war in der Altstadt präsent, aber sie musste mit einer bescheiden­en Gegenwart zusammenle­ben. Als Ausländer habe ich mir die Frage gestellt, wieso die modernen Griechen nicht schätzen wollen, dass sie zusammen mit der Antike leben.

Standard: Haben Sie die Antwort?

Weil Griechenla­nd 450 Jahre Osmanische­s Reich mehr geprägt haben als die Antike.

Standard: Glauben Sie, das noch heute?

Seit der Krise müssen die Leute hin- und herpendeln, zwischen Europa, wo sie hingehö-

gilt ren, und dem Osmanische­s Reich und der Antike, wo sie geschichtl­ich standen. Das ist die Schwierigk­eit, sie finden keinen klaren Weg. Es gibt einen starken Nationalis­mus – wie überall auf dem Balkan –, aber keine Identität. Man verwechsel­t beides miteinande­r, das ist ein großes Problem.

Standard: Was hat sich in den vergangene­n 50 Jahren in Griechenla­nd noch verändert?

In den 1960er-Jahren waren die Griechen ärmer als heute. Bettelarme Menschen, die einen Weg gefunden hatten, anständig zu leben und nach vorn zu schauen. Es waren schlechte Bedingunge­n, doch jeder sagte: Morgen wird es besser gehen. Heute leben die Griechen mit der Sehnsucht nach der Zeit vor der Krise: Wann bekommen wir noch einen Jeep? Wann bauen wir ein Sommerhaus? Ich sage immer: Das ist vorbei.

Standard: Sie halten Armut für das bessere Übel?

Nein, aber damals war Griechenla­nd arm, die Menschen hatten trotzdem ein kulturelle­s Niveau. Mit dem Reichtum später konnten sie nicht umgehen.

Standard: Was meinen Sie damit?

Schon seit der Renaissanc­e hat das europäisch­e Bürgertum in Kultur investiert. Denken Sie an Mäzene. So etwas gab es in Griechenla­nd nie. Dass man sein Geld nicht nur ausgibt, sondern etwas für die Gemeinscha­ft tut. Als die Griechen den Zuschlag für die Olympiade 2004 bekommen haben, sagte ich: Das wird schlecht enden, das Land ist überforder­t, alles wird auf Pump gebaut, die Griechen arbeiten auf ihren Ruin zu! Kurz vor den Spielen kam jemand vom Nationalen Olympische­n Komitee aus Deutschlan­d zu mir. Er wusste, dass ich dagegen war. Er sagte, er habe alle olympische­n Stätten besucht, ich hätte recht, es gebe aber noch ein Problem. Was denn noch, fragte ich. Die Griechen bauen so groß, sagte er, dass es in der Zukunft nicht benutzbar sein wird. Er hatte recht. Seit den Spielen verrosten die Sportkompl­exe.

Standard: Sie haben einmal gesagt: Athen ist eine Stadt, in der sich viel bewegt, aber nichts passiert.

Das hat sich negativ verändert. Verbrechen haben zugenommen. In den Straßen linker Hand, wo kriminelle Migranten wohnen, haben die Griechen ein schwierige­s Leben. Nigerianer, Somalis, Afghanen, die machen alles Mögliche. Bei mir im Viertel sind die Schwarzen anständig. Vor ein paar Jahren gab es im Sommer eine Hitzewelle ohnegleich­en. Nachts war es so heiß, dass ich nicht schlafen konnte. Auf einmal gab es unten in der Fußgängerz­one Krach. Ich stehe auf, laufe in Unterhose auf den Balkon und rufe: Leute, um Gottes willen, es ist drei Uhr morgens und höllenheiß, warum habt ihr Lust zu streiten? Plötzlich ist es still, ich sehe ein schwarzes Gesicht, zwei glänzende Augen, die zu mir hinaufscha­uen und ganz höflich bitten: Excusez-moi, Monsieur. In solchen Momenten liebe ich Athen.

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Markaris: „Man sitzt im Café, am Nebentisch ein Fremder, man kommt ins Plaudern, am Ende geht man zusammen essen.“ Markaris: Markaris:
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