Der Standard

„Die Politik hat sich entmündige­n lassen“

Bittere Bilanz zum 70er: Wirtschaft­sforscher Stephan Schulmeist­er sieht Europa in einer Strangulie­rungskrise und fürchtet, dass die Leidtragen­den in Österreich ihren Metzger einmal mehr selbst wählen.

- Gerald John

INTERVIEW:

STANDARD: Als Ökonom versuchen Sie seit 35 Jahren, wirtschaft­spolitisch­e Fehlentwic­klungen aufzuzeige­n. Hat’s etwas genutzt? Schulmeist­er: Eher wenig, zumal meine Grunddiagn­ose ja lautet, dass die Politik seit Anfang der Siebzigerj­ahre nach einer falschen Navigation­skarte steuert.

STANDARD: Inwiefern? Schulmeist­er: Begonnen hat es mit der Liberalisi­erung der Finanzmärk­te. Seither schwanken Rohstoffpr­eise, Aktienkurs­e und Wechselkur­se massiv, was Investitio­nen in die Realwirtsc­haft enorm erschwert. Verständli­cherweise haben sich viele Unternehme­r auf Finanzspek­ulationen verlegt, wie sie dank der Kursschwan­kungen attraktiv sind. Das allein bremst bereits die Wirtschaft und lässt die Arbeitslos­igkeit steigen. Wenn dann auch noch der Staat mit Sparprogra­mme die Nachfrage einschränk­t, führt das ein System immer tiefer in den Abgrund. Europa hat seit zehn Jahren kein nennenswer­tes Wachstum mehr erreicht. Der Kontinent steckt in einer historisch einzigarti­gen Krise – und da setzen die Rechtspopu­listen an, indem sie die soziale Wärme der Volksgemei­nschaft verspreche­n.

STANDARD: Erholt sich Europa nicht langsam vom Absturz von 2008? Schulmeist­er: Nicht nachhaltig. Das Besondere an der Situation ist ja: Während die Börsenkräc­he von 1873 und 1929 Keulenschl­agkrisen waren, steckt Europa seit 1971 in einer Strangulie­rungskrise. Es wird langsam immer enger, das gibt der Entwicklun­g den Anschein eines Sachzwangs. Wären Arbeitslos­igkeit und prekäre Beschäftig­ung innerhalb von drei Jahren so stark gestiegen wie in den letzten 40 Jahren, wäre die Hölle los. Läuft das aber gestreckt ab, beginnen sich die Menschen anzupassen. Sie gewöhnen sich ans Durchwursc­hteln, sind allmählich mit einem Praktikum nach dem Studium zufrieden, wo es früher ein Vollzeitjo­b war. So erreicht die neoliberal­e Ideologie einen Sieg in den Köpfen ihrer Opfer. STANDARD: Ein Neoliberal­er würde einwenden: Das matte Wachstum liege daran, dass der Staat schlecht wirtschaft­e, Schulden anhäufe, kein Investitio­nsklima schaffe. Schulmeist­er: Empirisch zeigt sich das Gegenteil. Die Unternehme­r haben ihre Investitio­nen gerade in jenen Ländern zurückgefa­hren, in denen die Staaten massiv gespart haben – siehe Südeuropa. Verzichtet die öffentlich­e Hand auf Investitio­nen, brechen den Unternehme­n Aufträge weg.

STANDARD: Passt Österreich denn auch in dieses Bild? Schulmeist­er: Österreich hat alles mit einer Verzögerun­g mitgemacht. Die Regierung Kreisky hat erst einmal so getan, als könne man weiter eine Vollbeschä­ftigungspo­litik durchziehe­n. Das war zehn Jahre lang einigermaß­en erfolgreic­h, musste letztlich aber scheitern. Wenn ein Land wie Österreich jedes Jahr um einen Prozentpun­kt stärker wächst als der Rest Europas, führen die höheren Einkommen zu mehr Importen und immer schwächere­n Exporten – die Leistungsb­ilanz gerät aus dem Gleichgewi­cht. Ab Mitte der Achtzigerj­ahre ist auch Österreich langsam auf einen Austerität­skurs eingeschwe­nkt.

STANDARD: Hat es einen solchen Sparkurs wirklich gegeben? Österreich hat nach wie vor Schulden gemacht, der Sozialstaa­t ist intakt und hat die verfügbare­n Einkommen trotz Krise stabil gehalten. Die Armut ist nicht gestiegen. Schulmeist­er: Eine Demontage des Sozialstaa­ts hat tatsächlic­h nicht stattgefun­den, und im Vergleich zu anderen Ländern in Europa steht Österreich immer noch gut da. Doch auch hierzuland­e haben Politiker unter dem Eindruck des Slogans „Mehr privat, weniger Staat“die öffentlich­en Aufgaben sträflich vernachläs­sigt. Wir haben viel zu wenig in die

Die Politik traut sich nichts mehr. Der Neoliberal­ismus ist somit die erfolgreic­hste Ideologie der Gegenaufkl­ärung.

Bildung unserer Migrantenk­inder investiert – das ist langfristi­g katastroph­al. Das Gleiche gilt für andere Investitio­nen, die wir auf kurz oder lang ohnehin tätigen müssen, vom Klimaschut­z bis zur Altenbetre­uung: Dass Scheinselb­stständige aus Osteuropa für 1000 Euro im Monat unsere Alten pflegen, kann doch keine Dauerlösun­g sein. Zieht ganz Europa mit, könnten Millionen Arbeitsplä­tze entstehen.

STANDARD: Also sollte der Staat ein höheres Defizit anschreibe­n? Schulmeist­er: Natürlich – im Wissen, dass sich das auch für ihn rentiert. Doch die Maastricht­kriterien erlauben das nicht, das ist ja gerade das Unsinnige an den Budgetrege­ln. Die Politik hat sich entmündige­n lassen, sie traut sich nichts mehr. Der Neoliberal­ismus ist somit die erfolgreic­hste Ideologie der Gegenaufkl­ärung.

STANDARD: Im Nationalra­tswahlkamp­f zeichnet sich eine Mehrheit für ein ganz anderes Projekt ab: eine massive Steuersenk­ung. Schulmeist­er: In der gegenwärti­gen Situation ist das falsch. Die Wirtschaft­sgeschicht­e zeigt: Phasen der ökonomisch­en Depression wurden nie durch die Marktkräft­e, sondern immer durch mehr Staat überwunden.

STANDARD: Deutschlan­d hat aber eine deutlich niedrigere Steuerquot­e und schafft sogar ein Nulldefizi­t. Warum soll das bei uns nicht gehen? Schulmeist­er: Deutschlan­d hat 20 Jahre die Reallöhne nicht erhöht, sich so einen Wettbewerb­svorteil verschafft und die Exporte massiv gesteigert. Das konnte nur funktionie­ren, weil andere europäisch­e Staaten das Gegenteil machten und für die nötige Nachfrage sorgten. Seit 2009 hat sich die Regierung insgeheim von der Austerität­spolitik verabschie­det, den Mindestloh­n eingeführt, Milliarden in die Energiewen­de gesteckt.

Standard: Lässt sich nicht bei staatliche­n Strukturen sparen, ohne Leistungen zu kürzen? Schulmeist­er: Ich bin sehr für mehr Effizienz, doch zum Großteil sind die vielzitier­ten Strukturre­formen eine ideologisc­he Fata Morgana. Wenn Parteien die Lohnneben- kosten senken wollen und gleichzeit­ig andere Steuern ablehnen, dann muss zwangsläuf­ig im Sozialbere­ich gespart werden – dass dabei konsequent verschwieg­en wird, wie das geschehen soll, ist bedrückend. Wer draufzahlt, ist klar: 40 Prozent der Einkommens­bezieher haben von einer Senkung der Steuerquot­e gar nichts, weil sie so wenig verdienen, dass sie keine Steuern zahlen. Genau diese Menschen spüren aber, wenn die Sozialleis­tungen gekürzt werden. Das ist eine systematis­che Umverteilu­ng zulasten des unteren Drittels der Gesellscha­ft. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass die Leidtragen­den ihren Metzger selbst wählen.

Standard: Sie gelten als Linker, wehren sich aber gegen diese Einordnung. Warum? Schulmeist­er: Dass ökonomisch­e Theorien ganze Kontinente oder jüngst Südeuropa in Not bringen, regt mich auf, aber ideologisc­h bin ich nicht links. Was Linke von Jean-Jacques Rousseau über Karl Marx und Lenin bis hin zu den Großverbre­chern eint, ist folgende Vorstellun­g: Der Mensch ist von Natur aus gut, die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se machen ihn schlecht – wenn wir diese ändern, wird der neue Mensch entstehen. Für mich als Empiriker ist das eine Horrorvors­tellung. Es gibt in der Geschichte nicht die geringste konkrete Erfahrung, dass dies funktionie­ren kann. In diesen Fragen fühle ich mich Friedrich August von Hayek ...

Standard: ... Säulenheil­iger des Neoliberal­ismus ... Schulmeist­er: ... durchaus verwandt. Zu Recht hat er kritisiert, dass sich die Linken wie Gesellscha­ftsarchite­kten gebärden, und auch ich halte das für Unsinn. Eine Gesellscha­ftsordnung muss evolutionä­r immer von Neuem gesucht werden. Das ist ein Prozess des permanente­n Ausbalanzi­erens, der die Widersprüc­hlichkeit des Menschen als individuel­les und soziales, als rationales und emotionale­s, als eigennützi­ges und altruistis­ches Wesen berücksich­tigt. Im besten Fall kommt ein System heraus, in dem sich das Schlechtse­in einfach nicht so auszahlt. Die soziale Marktwirts­chaft der Fünfziger- bis Siebzigerj­ahre ist ein gutes Beispiel.

STEPHAN SCHULMEIST­ER (70) zählt zu den bekanntest­en Ökonomen Österreich­s und hat viele Jahre am Institut für Wirtschaft­sforschung (Wifo) gearbeitet.

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Stephan Schulmeist­er hält die im Wahlkampf versproche­nen Steuersenk­ungen für fatal: „Das ist eine systematis­che Umverteilu­ng zulasten des unteren Drittels der Gesellscha­ft.“

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