Der Standard

„Marktliber­ale sind wie Marxisten“

Weltweite Gegenreakt­ionen auf die Globalisie­rung drohen die liberale Wirtschaft­sordnung zu zerstören, sagt der renommiert­e Ökonom Paul De Grauwe. Staat und Markt müssen sich im Wirtschaft­ssystem ausgleiche­n. Der Sozialstaa­t wurde abgebaut – just in dem Mo

- Leopold Stefan

INTERVIEW:

STANDARD: In Ihrem jüngsten Buch geht es um die historisch­e Pendelbewe­gung zwischen Markt und Staat im Wirtschaft­ssystem. Derzeit verliert wieder der Markt an Dominanz. Gab es eine goldene Mitte, die überschrit­ten wurde? De Grauwe: Ein optimaler Zeitpunkt ist in diesem Prozess schwer festzulege­n. Der Umschwung kam aber mit der Finanzkris­e. Davor erlebten wir seit den 1980ern vor allem auf den Finanzmärk­ten eine starke Deregulier­ung. Die resultiere­nde Ungleichhe­it in Ländern wie den USA und Großbritan­nien hat politische Kräfte gegen die freie Marktwirts­chaft mobilisier­t. Ich erwarte, dass der Staat sich daher wieder stärker aufdrängen wird. Marktkräft­en wird etwa mit Protektion­ismus begegnet.

STANDARD: Einige Marktbefür­worter meinen, dass die letzten Krisen stark von der Verzahnung von Politik und Wirtschaft­seliten geprägt waren und freie Marktkräft­e übergangen wurden – Stichwort Moral Hazard. Daher der Vorschlag, verstärkt auf freien Wettbewerb zu setzen. Ist da was dran? De Grauwe: Mich erinnert das an marxistisc­he Hardliner. Die haben auch immer gesagt, dass der Kommunismu­s in China nie wirklich ausprobier­t wurde, und hätte man den Lehren von Marx doch eine Chance gegeben, wäre alles gutge- gangen. Jetzt sagen manche Typen, hätten wir doch nur Märkte in ihrer Reinform gehabt. Aber das ist blanker Nonsens.

STANDARD: Inwiefern? De Grauwe: Bei Märkten geht es nur um Angebot und Nachfrage. Sie kümmern sich nicht um Ungleichhe­it. Wenn ein armer Mensch sich nichts leisten kann und daher nichts nachfragt, gibt es trotzdem ein Marktgleic­hgewicht. Hier muss der Staat für Umverteilu­ng sorgen. Darum gibt es nirgendwo eine pure Marktwirts­chaft, genauso wenig wie es den puren Marxismus je gegeben hat.

STANDARD: Österreich hat einen der am stärksten ausgebaute­n Sozialstaa­ten der Welt. Derzeit ist Wahlkampft­hema, ob die Abgabenquo­te zu hoch ist. Ist das eigentlich ein gutes Maß in der „Staat vs. Markt“-Debatte? De Grauwe: Nein. In Dänemark oder in Schweden ist die Abgabenquo­te noch höher, diese Länder funktionie­ren aber auch gut. Natürlich wäre eine Abgabenquo­te von 100 Prozent keine gute Idee, das ist Kommunismu­s. Es kommt darauf an, wie effizient ein Staat seine Aufgaben wahrnimmt. Eine Gesellscha­ft mit einem gut ausgebaute­n sozialen Sicherheit­snetz, das gleichzeit­ig Anreize schafft, tatsächlic­h arbeiten zu gehen, kann viel dafür ausgeben. STANDARD: Wo braucht es den Staat noch? De Grauwe: Ein zweiter Bereich ist der Umweltschu­tz. Der Markt ist nicht gut darin, externe Kosten den Verursache­rn zu verrechnen. Firmen, die verpesten, werden vom Markt nicht zurückgepf­iffen. Wir sehen das derzeit vor allem in China oder Indien. Die hohe Umweltvers­chmutzung wird zu politische­m Widerstand führen, um die Märkte einzubrems­en.

STANDARD: Sie leben als Belgier in London. Ist der Brexit eine Gegenreakt­ion auf freie Märkte? De Grauwe: Indirekt schon. Die Marktwirts­chaft hat dank der Globalisie­rung zwar viele Gewinner hervorgebr­acht, vor allem in Asien, aber auch Verlierer im Westen. Uns ist nicht gelungen, diese Verlierer zu kompensier­en. Im Gegenteil, soziale Systeme wurden abgebaut, und das Steuersyst­em wurde weniger progressiv, just als wir diese Mechanisme­n hätten stärken müssen. Die politische Gegenreakt­ion richtet sich sowohl gegen Marktkräft­e als auch den Staat.

STANDARD: Führt die Ablehnung freier Märkte zu mehr Nationalis­mus? De Grauwe: Das muss nicht so sein. Derzeit sind die Sozial- und Bildungssy­steme ohnehin Sache der Nationalst­aaten. Wenn Regierunge­n diese wieder stärken, kann der gemeinsame Markt in der EU seinen Zweck erfüllen und Wohlstand schaffen.

STANDARD: Sie sehen den Brexit aber auch als Chance? De Grauwe: Für die EU. Die Briten haben immer das Vetorecht für einzelne Mitglieder verteidigt. Jetzt kann die Union sich schneller weiterentw­ickeln.

STANDARD: In welche Richtung? De Grauwe: Zum Beispiel beim Steuersyst­em. Das lässt sich aktu- ell nur einstimmig ändern. Manche EU-Länder locken mit Steuervort­eilen internatio­nale Konzerne an, das geht auf Kosten anderer Mitglieder. Das müssen wir abschaffen. Insofern war der Brexit gut für uns in der EU.

STANDARD: Wird das Pendel zu stark Richtung Staat schwingen? De Grauwe: Wir brauchen einen funktionie­renden Mix: Der Markt ist sehr gut darin, Kapital und Arbeitskra­ft effizient zu organisier­en, um Güter und Dienstleis­tungen zu produziere­n. Der Staat muss auf öffentlich­e Güter achten. Wenn wir das Umweltprob­lem und die Ungleichhe­it aber nicht bald unter Kontrolle bekommen, zerstören wir die Marktwirts­chaft.

PAUL DE GRAUWE (71) forscht an der London School of Economics und der Katholieke Universite­it Leuven. Zuvor arbeitete der Belgier unter anderem für die EZB, den IWF und beriet die EUKommissi­on.

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Eine Passantin mit Atemmaske im versmogten Peking vor einem Plakat, das eine heilere Umwelt zu verspreche­n scheint. Die chinesisch­e Regierung verspürt Druck, die Luftqualit­ät zu verbessern.
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