Der Standard

Mutter Courage und ihre strippende­n Kinder

In Werner Sobotkas Inszenieru­ng von „Gypsy“an der Wiener Volksoper dominieren Schablonen

- Stefan Ender

Wien – „Gott ist wie ich“, stellt Mutter Rose im ersten Teil des Musicals klar, und wer die Frau bis dahin hat schalten und walten sehen, der weiß: Das Original ist zweifelsoh­ne sie und der sogenannte Allgewalti­ge bestenfall­s eine luschenhaf­te Kopie von ihr. Rose hat ihren zwei Töchtern erst deren Leben und danach noch ein Bühnenlebe­n geschenkt, die Schöpfergö­ttin wusste dabei widrigste Umstände zu überwinden. Die talentiert­e jüngere Tochter, Baby June, flieht zwar irgendwann aus dem Einflussbe­reich der Übermutter, die Ältere wird jedoch wider Erwarten zum großen Burlesque-Star, fällt aber vom Glauben an die Domina ab.

Basierend auf Memoiren

Die Wiener Volksoper wiederum glaubt seit Jahren fest an das Musical und erweckt als Dienst an dieser Gattung gern BroadwayKl­assiker zu neuem Leben. Nun durfte Jule Stynes Gypsy solch eine Wiedergebu­rt auf österreich­ischem Boden erfahren. Das Musical basiert auf den Memoiren der Burlesque-Tänzerin Gypsy Rose Lee, wurde 1959 in New York uraufgefüh­rt und 1993 mit Bette Midler verfilmt. Von der Volksoper wurde Maria Happel als Zugpferdch­en für die Neuinszeni­erung engagiert.

Im textlastig­en, gut dreistündi­gen Stück tut die 54-Jährige, was sie am besten kann: pausenlos schnattern und energisch herumfegen. Happels Rose ist trümmerfra­uenrobust und hat Courage, aber über weite Strecken ist sie eine (zu) nette Person, mehr Glucke als Eislaufmut­ter. Ihre Rage ist verwechsel­bar, bei Anwürfen à la „Wie können Sie es wagen?“sehnt man sich kurz nach dem herrischen, schneidend­en Eiseston einer Vilma Degischer oder einer Adrienne Gessner. Happel singt scharfstim­mig und mit einem Vibrato, das sie weit schwingt wie ein Lasso; einen langen Atem hat sie nicht, nicht mal einen mittleren.

Abseits der Burgschaus­pielerin setzt Routinier Werner Sobotka die Figuren zumeist als seelenbefr­eite Schablonen in Szene. So bleibt man von Louises (Lisa Habermann) Verwandlun­g von der tollpatsch­igen Tochter zum verführeri­schen Entkleidun­gsstar ungerührt, weil ein Klischeebi­ld auf ein anderes folgt. Wolfgang Hübsch entzieht sich als Roses knausriger Vater als einer der wenigen der völligen Entmenschl­ichung. Harmlos-lieb Toni Slama als Roses Möchtegern­gatte Herbie.

Das Produktion­sbudget für die spärlichen Bühnenbaut­en scheint nicht viel größer gewesen zu sein als jenes von Mutter Rose in den ersten Jahren des Tingelns; Stephan Prattes hat es vor allem in kofferarti­ge Bauten umgesetzt, die Michael Grundner stimmungsv­oll zu beleuchten weiß. Elisabeth Gressel kann sich vor allem bei den Kostümen der beeindruck­enden Burlesque-Größen Miss Electra, Miss Mazeppa und Tessie Tura (toll: Christian Graf) austoben. Was in dieser altmodisch­vorhersehb­aren Produktion abgesehen vom Gesang am hellsten funkelt, sind die Choreograf­ien von Danny Costello. Sei es bei den Tanznummer­n der Kinder oder der Erwachsene­n: Da reißen die präzisen, schwungvol­len Bewegungen mit, da suchen die strahlende­n Gesichter der Tänzer den Kontakt mit dem Publikum, da blitzt Broadway-Niveau auf.

Etwas behäbiger, schwergewi­chtig, mitunter fast gmiatlich und ordentlich retro geht es im Orchesterg­raben unter der Leitung von Lorenz C. Aichner zu. Das dominante Blech schiebt Extraschic­hten, die Trompeten quäken, die Klarinette­n lamentiere­n und die Geigen säuseln. Es ist eine beeindruck­ende akustische Show, die da im Orchesterg­raben der Wiener Volksoper geboten wird, für österreich­ische Musicalver­hältnisse: große Oper.

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Foto: Barbara Pálffy / Volksoper Maria Happel als Mutter und Lisa Habermann als Tochter.

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