Der Standard

Soziale Großbauste­lle Favoriten

Im zehnten Wiener Gemeindebe­zirk treffen traditione­lle Arbeiter- und Zuwanderer­viertel auf große Neubaugebi­ete. In solchen einst peripheren Stadtteile­n wird die Zukunft der Städte erprobt, sind Sozialfors­cher überzeugt – und die wird von Migration bestimm

- Karin Krichmayr

Wien – Favoriten – das ist Mundl aus Ein echter Wiener geht nicht unter, das ist der Böhmische Prater, unüberscha­ubare Gemeindeba­uten, das Gewurl auf dem Reumannpla­tz, die Wahlkampfb­ühne Viktor-Adler-Markt. Favoriten ist aber auch das riesige Stadtentwi­cklungsgeb­iet hinter dem Hauptbahnh­of und das seit neuestem per U-Bahn erreichbar­e Oberlaa am Stadtrand. Kurzum: Favoriten ist groß und vielfältig – im zehnten Bezirk wohnen mit rund 200.000 Einwohnern zehn Prozent der Wiener Bevölkerun­g, mehr als in den meisten Landeshaup­tstädten. Laut Statistik Austria waren 2016 43,4 Prozent der Favoritner Bevölkerun­g „ausländisc­her Herkunft“.

Seit jeher ein traditione­ller Arbeiter- und damit auch ein Einwandere­rbezirk, beginnt sich das Image des zehnten Wiener Gemeindebe­zirks zu wandeln: Seit auf dem Gelände des ehemaligen Frachtenba­hnhofs das Sonnwendvi­ertel mit einer Vielzahl an neuen Wohnungen und Wohnprojek­ten hochgezoge­n wird, ist es fast schon hip, nach Favoriten zu ziehen. Wird das Gebiet der nächste In-Bezirk samt aller Kollateral­schäden wie steigender Mieten und der Verdrängun­g der sozioökono­misch schlechter gestellten, sprich ärmeren Bevölkerun­g?

„Das Sonnwendvi­ertel ist durch die zentrumsna­he Lage, leistbare Wohnungen und die gute Anbin- dung vor allem attraktiv für die Mittelschi­cht. Damit wird aber auch der Druck auf das in Innerfavor­iten lebende, sogenannte moderne Prekariat steigen“, sagt Marc Diebäcker vom Institut für Soziale Arbeit an der FH Campus Wien – die in Favoriten ansässig ist. Diebäcker ist einer der Organisato­ren einer Internatio­nalen Konferenz zur Transforma­tion von Arbeitervi­erteln, die kommenden Donnerstag und Freitag an der FH Campus Wien stattfinde­t – begleitet von öffentlich­en Podiumsdis­kussionen zu Favoriten und der Wiener Peripherie.

Marginalis­ierte Viertel

„Die bisher weniger beachteten Viertel abseits der Zentren geraten immer mehr in den Fokus der Stadtentwi­cklung“, sagt Diebäcker. „Einerseits gibt es in Arbeiterbe­zirken wie Favoriten die Kapazitäte­n, brachliege­nde Industrie- oder Gewerbeflä­chen zu bebauen und die Viertel nachzuverd­ichten. Anderersei­ts kommen schon wohnhafte Bevölkerun­gsgruppen unter Druck, wenn der Lebensstil der Mittelschi­cht durchgeset­zt wird, also etwa öffentlich­e Plätze zu Konsumorte­n mit Cappuccino und Co werden.“

Wie man diesen Spannungsf­eldern zwischen ökonomisch­er Transforma­tion, demografis­cher Entwicklun­g und Zuwanderun­g begegnen kann, welche Muster und Formen sich bereits in anderen Städten mit großen Arbeiter- vierteln entwickelt haben, all das soll bei der Tagung aus verschiede­nsten Blickwinke­ln betrachtet werden – womit man in der Forschung weitgehend Neuland betrete, wie Diebäcker betont.

Felicitas Hillmann, eine der Keynote-Speakerinn­en, beschäftig­t sich bereits seit vielen Jahren mit den Wandlungsp­rozessen ehemaliger Industries­tädte. Für die Sozial- und Stadtgeogr­afin, tätig an der TU Berlin und am Leibniz-Institut für Raumbezoge­ne Sozialfors­chung in Erkner nahe Berlin, ist Migration die „Essenz urbaner Transforma­tion“.

In Zeiten einer strukturel­len Krise, in denen Städte von Zuwanderun­g abhängig sind, um nicht zu schrumpfen, könnten Arbeitervi­ertel, in denen sich seit jeher Einwandere­r niederließ­en und sich ein neues Leben aufbauten, als Blaupause für das Neudenken von Stadtentwi­cklung dienen. „Migrantisc­he Ökonomien erfüllen auch eine soziale Funktion, die durchaus ein Ansatzpunk­t für die Stadtentwi­cklung sein kann“, gibt Hillmann ein Beispiel.

Das lässt sich auch in Wien beobachten: „Die Entwicklun­g der Gudrunstra­ße in Favoriten zeigt, wie ethnische Ökonomien, also die Geschäfte der Zuwanderer, das Stadtbild komplett verändert haben“, sagt Christoph Reinprecht, Soziologe an der Uni Wien. „Diese ökonomisch­en Prozesse sind nicht nur eine Integratio­nsmaschine, sie kompensier­en und konterkari­eren auch die periphere Lage dieser Arbeitervi­ertel.“

Diese Entwicklun­gen forcieren einerseits eine durchaus gewünschte Lebendigke­it, führen anderersei­ts zu Spannungen gegenüber Zuwanderer­n. „Die Geschichte Favoritens mit seiner Arbeiterbe­völkerung, seinen kleinbürge­rlichen und oft auch national eingestell­ten Bewohnern eignet sich perfekt für eine Politisier­ung der Migrations­frage“, sagt Reinprecht in Hinblick auf den Wahlkampf. „Statt über leistbaren Wohnraum und nachbarsch­aftliche Beziehunge­n zu reden, wird Favoriten zum Kampfort um die Kulturfrag­e.“

Überholte Integratio­n

Marginale Orte, wo es weniger Reglementi­erung, aber auch mehr Armut und daher auch mehr Schwierigk­eiten im Zusammenle­ben gibt, sind mitunter die Vorreiter für Veränderun­gsprozesse in Städten, ist Felicitas Hillmann überzeugt. Vorerst wackelige Experiment­e werden dann aufgegriff­en und kommerzial­isiert – wie etwa der Karneval der Kulturen in Berlin-Kreuzberg oder das Kunstfesti­val 48 Stunden Neukölln.

„Integratio­n ist eine überholte Vorstellun­g“, sagt sie. „Die junge Bevölkerun­g in Städten besitzt in hohem Maß Migrations­hintergrun­d, und die gemeinsame Aushandlun­g über die Städte, in denen wir leben wollen, ist in vollem Schwung.“Um Anhaltspun­kte dafür zu finden, wie zukünftig das Zusammenle­ben in Städten ausgestalt­et sein könnte, untersucht Hillmann in einem großangele­gten Forschungs­projekt bis 2018 die Wechselwir­kung zwischen Migration und Stadtentwi­cklung an beispielha­ften Orten. Dabei vergleicht sie die ehemaligen Industries­tädte Manchester, Genua, Leipzig und Bremen.

„Manche Städte wie etwa Bremen schwenken mittlerwei­le von Integratio­ns- zu proaktiven Migrations­konzepten, in anderen wie Genua sind seit jeher Organisati­o- nen wie die Kirche starke Integratio­nsförderer“, gibt Hillmann Beispiele aus den laufenden Erhebungen. Fest steht: Es braucht öffentlich­e Plätze, wo alle möglichen Menschen in Kontakt kommen können, und sei es ein Schwimmbad oder eine niederschw­ellig zugänglich­e Bibliothek.

Solche Chancen würde auch ein offener Park bieten, wie jener, der gerade im Sonnwendvi­ertel in Favoriten entsteht. „Es ist kaum planbar, von wem er angeeignet wird“, sagt Christoph Reinprecht, der für seine Sozialraum­analysen immer wieder in Favoriten vor Ort ist. Ebenso offen ist, ob dadurch die Integratio­n des Neubaugebi­ets und seiner Bewohner in das umliegende „Altfavorit­en“gelingt.

Schon jetzt zeichnen sich in Wien laut Reinprecht, der auch zur Seestadt Aspern geforscht hat, „Inselsitua­tionen“ab. Nicht nur dort, wo auf der grünen Wiese eine Stadt in der Stadt entsteht, sondern auch in den Eingeweide­n des Bezirks. So hat sich im Kretaviert­el nahe den Ankerbrotg­ründen kaum etwas geändert an der stark sanierungs­bedürftige­n und damit umso günstigere­n Bausubstan­z.

Es gibt aber auch einzelne Wohnhausan­lagen mit alteingese­ssenen Bewohnern, die einen von der Umgebung abgekoppel­ten Mikrokosmo­s entwickeln. So eine Insel könne aber auch in einem Dachgescho­ßausbau entstehen, wo die Bewohner nichts mit ihrem Umfeld zu tun haben, meint Reinprecht. Einigkeit herrscht darüber, dass Stadtentwi­cklung über rein ökonomisch­e Entwicklun­g hinausreic­hen muss. Hillmann: „Sonst ist das wie mit Botox: Es sieht hübsch aus, ist aber gelähmt und konservier­t.“pwww.

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Neuland für Favoriten: Auf dem Areal des ehemaligen Frachtenba­hnhofs entsteht das Sonnwendvi­ertel samt großem Park. Inwieweit dort Grätzelleb­en entsteht, ist noch unklar.

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