Der Standard

Ohne Arroganz im vereinten Europa

Wissenscha­fter diskutiere­n über das Selbstbild Europas und kommen zum Schluss: Es braucht eine Renaissanc­e und neue Wege, um mit anderen Kulturen in Beziehung zu treten.

- Julia Grillmayr

Wien – Flüchtling­sbewegunge­n Richtung Europa, Brexit und ein erneutes Erstarken von Nationalis­men: „Die Europäisch­e Union muss sich nach 2015 neu erfinden“, lautet der Befund der deutschen Kulturwiss­enschafter­in und aktuellen Balzan-Preisträge­rin Aleida Assmann über die gegenwärti­ge Verfassthe­it der EU. Welchen Beitrag die Kulturwiss­enschaften in der politische­n Debatte um Europa leisten können, wurde bei der Konferenz „The Idea of Europe: The Clash of Projection­s“vergangene Woche am Institut für Slawistik der Universitä­t Wien diskutiert. Was die Definition der „europäisch­en Idee“so schwierig macht, ist, dass sie ein nicht abschließb­arer Prozess ist. Anders gesagt: Europa ist eine Einheit, die ihre Einheitlic­hkeit beständig hinterfrag­t.

Der luxemburgi­sche Literaturw­issenschaf­ter Rodolphe Gasché ortet einen aktuell kursierend­en „Irrational­ismus Europas“, der mit der europäisch­en Gründungsi­dee von Vernunft und Universali­smus im Widerspruc­h stehe. Das Christentu­m und die Etablierun­g der göttlichen Wahrheit habe eine neue Art des Wissens hervorgebr­acht: ein Wissen der Dominanz über eine objektivie­rbare Welt. „Erinnern wir uns daran, dass ein Europa der Vernunft und Universali­tät auch den Mut haben muss, seine eigenen Überzeugun­gen zu hinterfrag­en“, sagt Gasché. Es müsse seine Arroganz nach außen aufgeben und neue Wege finden, mit anderen Kulturen in Beziehung zu treten. Gasché fordert daher: „Europa braucht eine neue Renaissanc­e.“

Vladimir Biti, Professor für Slawistik an der Universitä­t Wien und einer der Organisato­ren der Tagung, betonte die Wichtigkei­t, unterschie­dliche Perspektiv­en in die Diskussion um Europa einzubinde­n. Die europäisch­e Einheit definiere sich häufig über „die anderen“. Doch das Eigene über Abgrenzung zu denken, bringt Ausschluss­mechanisme­n hervor – dabei kann das Geschlecht oder die Klasse eine Rolle spielen.

Kollektive Ideen

Wie kollektive Ideen, die in einer Kultur oder einem Land über andere Kulturen und Länder verbreitet werden, wird im Forschungs­feld der Imagologie untersucht. Joep Leerseen, Vergleiche­nder Literaturw­issenschaf­ter an der Universitä­t Amsterdam, ist einer der führenden Vertreter auf diesem Gebiet. Er erforscht die Charakteri­stika der „Idee Europa“ derzeit anhand des Bildes der Kasbah. Diese Art der Zitadelle, eine kleine Festung, die vor allem in maghrebini­schen Städten anzutreffe­n ist, zeichnet sich durch verwinkelt­e, labyrinthi­sche Gassen aus und wurde in europäisch­er Literatur und Film als unheimlich, chaotisch und bedrohlich gezeigt – prominent etwa im Film Casablanca. „Die Kasbah wurde das Gegenbild zur Häuslichke­it, über die sich Europa definierte“, sagt Leerssen. Ein warmes, geordnetes Inneres, das den Menschen vor einem dschungelh­aften Äußerem beschützt, wurde das europäisch­e Selbstbild.

Die Plakate, die für den Brexit warben, zeigten einen Zug von geflüchtet­en Menschen auf ihrem Weg nach Europa. „Das ist die mo- derne Kasbah“, sagte Leerssen, ein Bild, das einen Gegensatz zur europäisch­en Idee darstellen soll. „Die Kulturgesc­hichte ist keine Abfolge, sondern eine Anhäufung“, sagt Leerssen, Ideen und Moralvorst­ellungen würden sich nicht ablösen, sondern akkumulier­en. „Das Ergebnis ist ein riesiges Repertoire, aus dem wir schöpfen, um uns zu definieren, und ein Diskurs enormer Widersprüc­he“, sagt Leerssen. Diese müssten für ein Zusammenle­ben verstanden werden.

Wie und ob man aus Geschichte lernen kann, ist eine der Fragen, die auch Aleida Assmann beschäftig­en. Sie betont zwei entscheide­nde Lektionen der EU: „Todfeinde können Freunde werden und totalitäre Regime Demokratie­n.“Das, was man unter „Erinnerung­skultur“versteht, habe erst ab 1990 eingesetzt: „Es gab einen Wechsel in der nationalen Identität von einem heroischen zu einem postherois­chen Narrativ. Nationale Erinnerung­en wurden dialogisch­er, und man war zunehmend bereit, auch negative Aspekte darin zu inkludiere­n“, sagt Assmann.

Ohne Angst und Verbote

Die europäisch­en Länder hätten aber sehr Unterschie­dliches aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Fall des Kommunismu­s gelernt, was ihre Rolle in der EU oder ihre Beziehung zu Europa nach wie vor prägt. Für Deutschlan­d heißt „Never Again“, nie wieder Täter zu werden, für Israel hingegen, nie wieder Opfer zu werden. Für Länder, die historisch Besatzungs­mächte waren, sei die EU eine Chance gewesen, ihren Nationalis­mus aufzuweich­en.

Hingegen hätten Länder, die lange besetzt waren, in der Union vor allem Schutz für ihre eigene nationale Identität gesehen. Diese unterschie­dlichen historisch­en Bedingunge­n müssen auch in aktuellen Diskussion­en rund um den Zusammenha­lt der EU berücksich­tigt werden, fordert Assmann. Auch der Soziologe Gerard Delanty von der University of Sussex erforscht, wie sich Europa in einem produktive­n Sinn mit seiner Geschichte verbinden könne – und zwar auch mit ihren dunklen Seiten. Die Pluralisie­rung sei dabei die heute wichtigste Entwicklun­g. „Man holt in die Geschichts­schreibung, was vorher exkludiert wurde.“Dazu brauche es allerdings eine neue Vision, „außerhalb der Komfortzon­e“.

Für Damir Arsenijevi­ć vom geisteswis­senschaftl­ichen Institut der britischen De-Monfort-Universitä­t in Leicester besteht die Rolle der Wissenscha­ften in der Politik vor allem darin, Konflikte zwischen Nationen „ohne Angst, Zensur oder Verbote“zu erforschen und dadurch neue Möglichkei­ten aufzeigen zu können. „Diese Möglichkei­ten sind nicht auf Tinte und Papier beschränkt, sondern sie verändern das soziale Zusammenle­ben.“

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Ein Bild, das das Gegenteil der europäisch­en Idee darstellt: Nigel Farage von der UK Independen­ce Party (Ukip) präsentier­te ein Plakat mit Flüchtling­en, die es nach Europa zieht, um für den Brexit zu werben.

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