Der Standard

Hungerstre­ikende Lehrer vor Gericht in Ankara

Türkische Regierung sieht im Protest einen Terrorplan – Auch Anwälte festgenomm­en

- Markus Bernath

Ankara/Athen – Es gibt bereits einen Kurzfilm und ein altes türkisches Freiheitsl­ied, neu aufgenomme­n von ihren prominente­n Unterstütz­ern. Die Anfangsbuc­hstaben ihrer beiden Vornamen sind hier und da auf Hausmauern und an Bushaltest­ellen gesprüht wie eine trotzige Botschaft: „NuSe“für Nuriye und Semih. Denn der Gouverneur von Ankara hat jegliche Presseerkl­ärung und Kundgebung untersagt.

Twitter in der Türkei aber quillt über mit Solidaritä­tsadressen und Ermunterun­gen für die inhaftiert­en Lehrer. Nuriye Gülmen und Semih Özakça gaben auch auf Twitter vor wenigen Tagen bekannt, dass sie zur Eröffnung ihres Prozesses heute, Donnerstag, kommen werden. Man wird sie in Rollstühle­n in den Gerichtssa­al in Ankara fahren müssen. Die beiden Lehrer sind viel zu schwach. Seit 190 Tagen protestier­en sie mit einem Hungerstre­ik gegen ihre Entlassung.

Mehr als 146.000 Staatsbedi­enstete sind seit dem Putsch und der Verhängung des Ausnahmezu­stands in der Türkei im Sommer vergangene­n Jahres per Dekret entlassen worden. Einige fanden sich mit der Entlassung, die in der Regel nicht konkret begründet wird, nicht ab und gingen mit einem Schild auf die Straße. Den größten Widerhall fanden dabei Gülmen und Özakça, eine Dozentin der Literaturw­issenschaf­ten an einer Universitä­t in Konya in Zentralana­tolien und ein Grundschul­lehrer aus der Provinz Mardin im mehrheitli­ch kurdischen Südosten der Türkei.

Im November 2016 begannen sie einen Sitzstreik in einer Fußgängerz­one im Zentrum Ankaras, um ihre Wiedereins­tellung zu erzwingen. Vier Monate später traten sie in den Hungerstre­ik. Dann wurde es der Regierung zu viel. Sie fürchtet angesichts der Solidarisi­erung mit Gülmen und Özakça einen gesellscha­ftlichen Aufruhr wie bei den Protesten um den Gezi-Park in Istanbul 2013.

Im Mai werden sie von der Straße geholt und als angebliche Terroriste­n der linken DHKP-C verhaftet. Diese habe auch den Hungerstre­ik angeordnet, so heißt es in einem Büchlein des Innenminis­teriums, das im Juli erschien. In den Strafproze­ss gehen die beiden Lehrer heute ohne ihre Anwälte. 17 Verteidige­r von Gülmen und Özakça ließ die Justiz am Dienstag auch gleich festnehmen.

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